Entwicklung im Spiegel der Geschichte

Bildanalytischer Appetizer Nr. 2

(Aus dem Archiv)

Entwicklung steht in der Geschichte unserer Kultur für drei verschiedene
Haltungen und Fragen an die Wirklichkeit.

(1) Entwicklung als Herausstellen von Sinn
(etwas deutlich machen, explizieren, offenlegen)

Im Mittelalter bis in den Umbruch der sogenannten Neuzeit hinein, sah man in einer Entwicklung die Offenbarungen eines göttlichen Planes. Wenn man die Natur beobachtete, las man im Buch der Natur, das von Gott geschrieben war. Entwickeln hieß, die Zielgerichtetheit der Sache herausstellen, seine Teleologie offenlegen. Für die richtige Lesart sorgten Priester und die lateinische Sprache, die nur für wenige zugängliche war. 

(2) Entwicklung als Funktionieren
(Entwicklung-in-sich)

In der Neuzeit und mit dem Aufkommen eines naturwissenschaftlichen Weltbildes
entstand ein neues und anderes Interesse an der Entwicklung. Die Frage nach dem Funktionieren rückte in den Vordergrund: Wie geht eines aus dem anderen hervor? Entwickeln hieß jetzt vor Allem: Ableiten aus dem, was jeweils vorangegangen war und daraus wieder und sofort, also, als eine "Entwicklung in sich". Darwin ist ein Beispiel für die Aufregung und Bewegung, die mit dieser neuen Haltung und Fragestellung aufgekommen war. Die Welt suchte man wie ein Uhrwerk zu verstehen, das in seiner zwingenden Mechanik (und bei Kenntnis aller Determinanten natürlich) alles Zukünftige vorhersagbar macht. Die Aufspaltung in einen Schöpfer hinter den Dingen und einen Adressaten mittendrin war nicht mehr nötig: Auch ohne einen ersten "Beweger" konnte man sich vorstellen, die "Schöpfung" im Ganzen irgendwann rekonstruieren und beherrschen zu können.
Was von der alten Zeit geblieben war, ist die Institutionalisierung dieser Suche: An die Stelle der Kirche trat die Wissenschaft, an die Stelle der Priester das Expertentum, an die Stelle der lateinischen Schrift die höhere Mathematik.



(3) Entwicklung als Herstellen im Sinne eines Erfindens
(Entwickler sein)

Erst in den letzten 100 Jahren beginnt eine andere Frage zu dem gleichen Stichwort "Entwicklung" Interesse und Raum zu gewinnen. Unsere Jetzt-Zeit interessiert sich mehr und mehr für das Problem der Anfänge von Entwicklung - für das Herstellen im Sinne eines Erfindens. Man möchte wissen, wie etwas entsteht, ohne dass es schon da war. Wie kommt ein Anfang zustande, wenn er aus dem Vorangegangenen nicht abzuleiten ist?

Die Frage lautet überspitzt:

Wie entsteht etwas aus dem Nichts?
Wie muss das Nichts verstanden werden, damit etwas aus ihm entstehen kann? Zur Beantwortung dieser Frage kann die Bildanalytische Psychologie beitragen: Bedeutungen sind mit dem Inhalt bildhafter Zusammenhänge gleichzusetzen. Wenn eine Sache von ihrer Bedeutung her zugleich alles sein kann (Beliebigkeit), dann ist dieselbe auch so offen wie ein Nichts. Ihr Alles meint dann auch ein Nichts. Das ist das Paradox von "Bedeutungen". Erst durch die Entschiedenheit einer Perspektive, welche ein ALLES auf irgendeine Endlichkeit herunterbricht, entsteht etwas Reales.

Beispiel:
Im Märchen vom Hans im Glück zeigt sich, wie ein Klumpen Gold ALLES ist und zugleich aber auch NICHTS, weil man einen Goldklumpen weder essen, noch reiten, noch als Kissen etwa nutzen kann - es zeigt sich aber auch, wie ein NICHTS nach dem Abwerfen des schweren Arbeitsgerätes (Mühlstein) auf einmal ALLES bedeuten kann.

Was erkennen wir?
Aus dem "Alles ist zugleich Nichts" kommen wir nicht heraus, auch nicht, wenn wir diesen Tatbestand in einem inflationären Aus- und Umtauschen zu bestreiten suchen (wie Hans es tut, der offen ist für alles, was ihm begegnet, sich aber auf die Anverwandlungs-Angebote der eingetauschten Dinge in keinem der Fälle nachhaltig einlässt). Sich ansprechen lassen und loslassen kann er gut. Das Märchen weist nun aber auf eine ganz besondere Drehung hin: Auch das Tauschen kann zu etwas Bindendem werden - überspitzt: es kann sich in ein inflationäres Tun verwandeln, an dessen Ende wir mit leeren Händen dastehen (alles gehabt haben aber nichts mit Bestand). Hans macht sich aber intuitiv vom „Geschäft“ des Tauschens los, indem ihm das Scherenschleifer-Werkzeug in den Brunnen fällt. Es ist wie mit dem Prinzip der unverdienten Liebe (Hansens Ziel war ja die Rückkehr zur Mutter). Das Prinzip der „unverdienten Liebe“ verbindet ja auch das Nichts mit dem Alles (nichts muss geleistet werden, aber ein Alles wird uns in der "Endlichkeit" dieser menschlichen Beziehung zuteil).

Bildanalytisch könnte ich hier noch gut weiter referieren:
In den Naturwissenschaften wird die Frage nach dem Entstehen aus dem Nichts ebenfalls gestellt z.B. in der kosmologischen Abteilung der Physik: Hier wird die Meinung vertreten, dass die gesamte vorhandene Realität erst durch die Brechung einer Symmetrie existiert, welche bis dahin, die sich gegenseitig aufhebenden Verhältnisse (Materie/Antimaterie) in einem Nichts zusammenhalten konnte. Auch die Quantenphysik hat zu dem Thema Wichtiges beigetragen. So hat sie den Begriff des "absoluten Zufalls" eingeführt (ein Konzept, das Ereignissen Rechnung trägt, die keine individuelle Vorgeschichte haben, aber in ihrem Eintreten exakt vorhersagbar sind).

Bei diesen Beispielen aus der Wissenschaftsgemeinschaft soll es hier aber bleiben. Wir lernen nämlich aus dem Märchen vom Hans im Glück, dass ein Zuviel und ein inflationäres Wechseln von Beispiel zu Beispiel nicht aus besagtem Paradox herausführt: Der Anspruch eines "Alles" - wenn wir uns nicht darin verlieren wollen - zwingt uns vielmehr in die Endlichkeiten eines genaueren Einlassens. Dabei kann auch nachhaltig etwas entstehen.


Autor: Werner Mikus

Bildadresse:
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f3/Hubble_Ultra_Deep_Field_part_d.jpg

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