Wirklichkeit will sich outen - die Bedeutung einer Haltung im Beschreiben
Wenn richtig und falsch im Zentrum stehen
Ausgangslage: Wir beschreiben einen Vorgang, ein Geschehen, ein Ereignis oder ein „Ding“. Jemand anderes, der den gleichen Vorgang, die gleiche Sache, das gleiche „Ding“ sieht, hält die Beschreibung aber für falsch. Jetzt kann man streiten: Vielleicht hat der andere eine andere Perspektive auf die gleiche Sache und sei nur deshalb zu einer anderen Feststellung gekommen. Man könnte aber auch wie folgt argumentieren: Die Voraussetzung, dass eine gleiche Sache in beiden Fällen vorliege sei falsch. Es läge nämlich niemals eine gleiche Sache vor, weil jede Sache doch immer nur in irgendeiner individuellen Auslegung oder Wahrnehmung existieren könne. Diesem Argument entgegentretend könnten wir uns aber wiederum ernsthaft die Frage stellen, ob nicht überhaupt erst einmal etwas vorzuliegen habe, bevor es im Weiteren durch eine menschliche Wahrnehmung realisiert werden kann. Und wenn man geneigt ist, diesem Argument zu folgen, kann man sich ebenso schnell wieder auf die Frage nach dem Richtig oder Falsch zurückverwiesen fühlen, weil wir sogar dann, wenn wir unter der nackten Existenz (dem Neorealismus von Markus Gabriel folgend) das bloße Erscheinen in einem Sinnfeld verstehen, wieder eine Ausrichtung in Kauf nehmen müssen (eine Ausrichtung, die in diesem Fall mit dem Sinnfeld entsteht).
Wenn richtig und
falsch im zweiten Glied stehen
Zuletzt können wir über die Frage nach dem Richtig oder Falsch hinaus einen entscheidenden Schritt weitergehen und uns fragen: Wie müssen wir die Dinge
beurteilen, wenn es für eine gute Beschreibung eigentlich um ein anderes und
größeres Problem geht, als um das eines richtigen oder falschen Festhaltens von
Geschehenem?
Vielleicht liegt es in der Natur der Wirklichkeit (und vor allem einer seelischen Wirklichkeit)
dass sie sich immer wieder gleichsam ungefragt selbst zu Wort meldet in ihrem
Befinden und sich in ihrem Sein dabei – wenn der Zeitpunkt hierzu reif ist – gleichsam
vor uns outet. Ich benenne es mit diesem Wortbild, um es für ein besseres
Verstehen hervorzuheben. Die Wirklichkeit könnte so verstanden werden, dass sie
sich von Zeit zu Zeit in ihren verborgenen Zusammenhängen outet, bzw. zu
erkennen gibt ganz ohne von einer beschreibenden Person dabei richtungsgebend
beeinflusst und zu einem Herzeigen gedrängt worden zu sein. Ein solches „Sich
zu erkennen geben“, ist dann nur auf dem Hintergrund eines bestimmten
allgemeinen Bedeutungshintergrunds zu verstehen – nämlich wie eine Figur, die
sich von demselben in einer entweder irgendwie schon erwarteten oder ganz und
gar unerwarteten Weise abhebt. Der Hintergrund muss von einer unklaren
Inhaltlichkeit und überlagerten Bedeutungsvielfalt sein, welche erst durch ein
Abweichen davon als ein wirksamer Hintergrund bewusstwerden und eine
spürbare Bedeutung erhalten kann.
Unentdeckten
Wirklichkeiten zu einem Outing verhelfen
Dinge outen sich nur dann, wenn wir eine entsprechende Atmosphäre hierzu herstellen können. Wir müssen das Geschehen nicht auf bestimmte Bedeutungserfahrungen hindrängen, der besondere Zusammenhang, verrät sich uns im Tun. Das sich zeigende Tun oder Handeln ist die Analogie zu einem Outing (ein Outing ist wörtlich genommen ja nur eine Erzählung, aber es ist im übertragenen Sinn das „sich zeigen als ein Solches“, es ist das sich Offenbaren eines bildhaften sich Verstehens und ein sich Unübersehbarmachen desselben.
Jede Sache hat ein
Verstehen, dass die Menschen bezogen auf genau diese Sache untereinander
vereint. Dieses Gemeinmachende ist auf besondere, kaum bemerkbare Weise wirksam
im Gewoge der sich überkreuzenden Geschichten und verbleibt so über weite Strecken jenseits einer
Manifestierung eines konkreten Inhalts, bis die schwebende Gestalt mit einem
Schlag zerfällt und in eine entschiedene Bedeutung übergeht. Das gleichsam
Vorgestaltliche mündet in einer manifesten, endlichen Gestalt.
Die Wissenschaft muss
eine Atmosphäre schaffen, in der sich die Dinge bezüglich eines bestimmten,
meist unscharf und schillernd erscheinenden Zusammenhangs outen können, ohne
dass ein eingriffiges Geschehen stattzufinden hat. Die Welt können wir einer Sache gegenüber allgemein in zwei Gruppen aufgeteilt sehen. Es gibt immer
eine deutlich größere Gruppe von Menschen, die einem bestimmten Bild vom besagten
Zusammenhang gleichsam aufsitzen (dem sogenannt gängigen Bild) und es gibt die
meist sehr viel kleinere Menschengruppe, welche die Erfahrung gemacht
hat, dem gleichen Zusammenhang in einer bedeutungsumgedrehten Weise gegenüber
zu stehen und es geschafft hat, dieses Sehen zusammen mit ihrem ersten Bild in ein vertieftes neues und gleichsam
zweites Verstehen (Bildverstehen) zu bringen. Die erfolgreiche Beschreibung
eines augenblicklichen Geschehens ist der Beschreibung eines sich über einen
weiten Zeitraum erstreckenden Prozesses vergleichbar, in welchem ein bestimmter
Wesenszug sich zunächst weitgehend verborgen halten kann, um eine tatsächliche und
bis dahin nur potenziell gegebene Bedeutung und Wirksamkeit bei Einbezug eines Kontextwechsels
dann umso deutlicher ins Licht zu setzen.
Umschaffen ist mehr
und anders als Umdeuten
Wenn wir Prozesse von
größerer zeitlicher Dauer beschreiben, haben wir es immer mit Entwicklungen zu
tun, in denen sich die Bedeutungen von Geschehnissen verwandeln. Wenn wir diese Prozesse beschreiben wollen, müssen wir Ihnen in unseren
Beobachtungen auf eine verstehende Weise entgegengehen. Dazu gehört es u.a., zu
wissen, dass das Seelische stets versucht, unangenehme Geschehnisse
umzuwandeln, indem es Verhältnisse zu schaffen versucht, die dem Geschehenen nachträglich
einen neuen und positiven Sinn geben. Wenn der Mensch die Bedeutung eines Geschehens
erfolgreich umschaffen will, gelingt ihm das nur, wenn er den Kontext, der für das
bisherige Verstehen der Sache und für seine Bedeutung verantwortlich ist, auf
eine gezielte Weise verändern und ihn zu einem anderen machen kann. Ein Hintergrund
verändert sich mit der Zeit immer irgendwie, aber nicht unbedingt so,
dass das besagte Ereignis dabei zu einem Geschehen wird, was sich nunmehr über
eine neue Geschichte, das alte Kontextuelle und das unglücklich Erlebte
einbeziehend, in ein schlüsselhaft positives und auf jeden Fall erwünschtes
Ereignis verwandelt. Dem gefühlten Endergebnis eines gelungenen Umschaffens von
einem zunächst unerwünschten Ereignis in ein „so habe ich es gewollt oder sollte
ich es gewollt haben“ müssen vielmehr eine ganze Reihe von Dingen vorausgehen.
Von außen gesehen geschieht alles so, als würde sich die Wirklichkeit von
selbst und wie aus sich heraus einbringen, so, als wollte sie sich eben in einer
bestimmten Angelegenheit outen und nicht etwa zähneknirschend oder brav auf
eine Anfrage Antwort geben. Hierzu müssen aber in Bezug auf das Atmosphärische
ganz bestimmte Verhältnisse gegeben sein. Gemeint ist ein schwebender Zustand
von möglichen Gestalten, die sich gegenseitig in den Dienst nehmen könnten,
sich im Status einer Potentialitätserhaltung aber bis zu einem gewissen Punkt vielleicht besser aufgehoben fühlen. Die erlösende Sinnbildung kommt mit einem Schlag.
Vorher wird probeweise mit allen möglichen Ansätzen der Sinnbildung
herumprobiert. Plötzlich macht eine neue gefundene mögliche Bedeutung für das
definiert unpassende Ereignis in allen möglichen Beziehungen einen Sinn.
Beispiel:
Nehmen wir das
Beispiel eines jungen Mannes, der sich als "Hans Dampf in allen Gassen" auf
vielen Ebenen mit großem Erfolg ein wirtschaftliches Zurechtkommen aufgebaut
hat, das weitgehend auf die Fähigkeit setzt, immer und überall, wo seine
Kompetenz gefragt ist, auch körperlich präsent zu sein. Nach einem irreparablen
Rückenschaden ist das nicht mehr in gleicher Weise möglich, er ist an einen
Rollstuhl und ans Sitzen gefesselt. Vielleicht kann er die Präsenz hinlänglich
über die Medien, die sich via Internet bieten, kompensieren. Er hat aber auch ein
besonderes Talent, das lyrische Schreiben. Hierzu hat er aber nicht das nötige
Sitzfleisch und hält das Suchen nach den besten Wendungen in einem Prozess des
Schreibens z.B. nicht wirklich aus. In seiner beruflichen Tätigkeit, die immer seine
volle Präsenz verlangte mit Reisen und allem dazugehörenden Drum und Dran, wurde er
davon befreit. Jetzt, im Rollstuhl stellen sich ihm diese Verhältnisse zu einer
neuen Bewertung in den Weg. Das austragende Sitzen an einer Sache hatte seinen
überlegenen Gegner immer in der umtriebigen Ungeduld, die ihm so auch beim
Schreiben von lyrischen Texten unschuldig in den einen oder anderen „Job“
innerhalb seines weiten Aktionsfeldes wegziehen konnte. Jetzt, zum Sitzen
gezwungen, ist er seiner Ungeduld anders ausgesetzt – die Mächte eines
Ausweichens und sich vom Platz Wegbewegens sind eingeschränkt. Im Sitzen kann jetzt sogar das ablenken wollende Lesen unterhaltender Texte oder das
Anschauen von Minivideos auf dem Handy helfen, Bezüge zum Lyrischen herstellen und bestimmte sprachliche Erfahrungen vertiefen zu können. Aber erst, wenn der Erfolg auf dem Gebiet des
Schreibens am Ende auch hilft, die höheren Ziele zu erreichen, welche der
Betreffende mit den Erledigungen eines Hans Dampf in allen Gassen sich
prinzipiell nicht erfüllen konnte, schnappt die sinngebende Gestaltbildung gleichsam zu
und legt ein Gelungenes „so habe ich es gewollt, oder sollte ich es gewollt haben“
hin! Vielleicht erhält der Betreffende einen in der Literaturszene besonders
anerkannten Preis.
Das Umschaffen einer
Wirklichkeit in immer wieder neue Geschichten hinein
Es ist am Ende immer unser Tun, was den Sinn macht und die Zwecke setzt. Es ist die Tat in ihrer je präsenten Ausführung. Das lyrische Schreiben wird zu etwas Anderem, durch den Unfall (irreparabler Rückenschaden) und durch die erzwungene Auseinandersetzung mit dem Problem des Sitzfleischentwickelns oder eben auch nicht. Erst der Einstieg in diesen Konflikt bahnt eine ihm mögliche Umwertung des unglücklich Geschehenen an, was eben dadurch auch von seiner negativen Bedeutung befreit werden kann.
Es kommt nicht darauf
an, wie der Betroffene das Ereignis des Unfalls in seinem Kopf oder Bauch bewertet
- wonach er sich ja andauernd im Verlaufe der kommenden Monate und Jahre ohne
Änderungserfahrung durchaus fragen kann. Es kommt vielmehr auf das an, was der tatsächliche
Umgang mit der Sache sagt. Ist das Umgehen mit der Lähmung ein Versuch, die Tätigkeiten,
die er bisher hochleistungsmäßig entwickelt hatte kompensatorisch zu ersetzen und
lediglich auf eine andere Weise hinzukriegen, dann ist sein Tun das Ausklammern
einer Auseinandersetzung mit einem sich aufdrängenden und lohnenden Konflikt.
Das möglicherweise am Ende stehende neue Umgehen mit dem Mangel gibt dem Tun
einen ganz neuen Sinn. Kurz: Er nutzt das Sitzfleisch, das er gewonnen hat, um
intensiver als je an sprachlich kniffligen Gefühlsverhältnissen zu arbeiten und
sie in lyrischer Form in ein Werk zu bringen und damit ein in ihm angelegtes
besonderes Talent zum Glänzen zu bringen. Es ist also nicht die bloße Deutung
des Unfalls, so wie sie im Kopf eines Menschen, ohne gelebte Geschichte bequem im Sessel stattfinden kann, was die Veränderung im jeweiligen Fall tatsächlich zustande gebracht hat. Eine solche, kopfbetonte Deutung kann am Ende dann
als eine rahmende und abrundende Geschichte wie ein nicht zu unterschätzender kleiner Luxus mit dazukommen.
Unsere Handlungen sind
es also, die es schaffen müssen, Verhältnisse die von gewünschtem Wert sind, herzustellen.
Allzu gerne suchen wir uns aber dabei auf Abkürzungen einzulassen indem
wir gleichsam z.B. kleine Zettelchen ans Geschehen kleben mit der beschriebenen Absicht einer
dem Handeln beiwohnenden Bedeutung. Solange wir das tun und das Angehängte
nicht dem Gewicht einer Bewertung entspricht, die dem zugrundeliegenden Handeln
tatsächlich zukommt, bleibt es uninteressant für die Entstehung einer neuen
Bewertung.
Für die Beschreibung kommt es auf eine neue Haltung an!
Solange wir den Dingen die Fähigkeit einer Bewertung absprechen, und ihnen nicht zutrauen, gleichsam selbst Geschichten in die Welt zu setzen und organisieren zu können, wird der Mensch das Prinzip des Umschaffens in ein „so habe ich es gewollt oder sollte ich es gewollt haben“ nicht als eine angemessene Haltung für ein wissenschaftliches Vorgehen ernst nehmen und das Ganze im Weiteren eher für ein nettes poetisch oder philosophisch zu nennendes Herumspielen mit der Wirklichkeit halten.
Gehen wir also hin und
helfen der Wirklichkeit das was sie uns zu sagen hat herauszubringen. Schaffen
wir eine Atmosphäre, die solchem Outing den Boden bereiten kann. Unser Ziel
sollte die Entwicklung einer entsprechenden Beschreibungshaltung sein.
Wir gewinnen dabei: Wenn wir uns dazu bereit erweisen, uns von der Wirklichkeit wie von einem Outing derselben überraschen zu lassen, können wir uns ihr gegenüber, als Teil derselben, aufs Ganze gesehen freier und angemessener verhalten. Eine Haltung, die das beschreibende „In-Fühlung-gehen“ mit einer Sache für sich zum Gegenstand erklärt hat (und nicht das einfache Zu- und Einordnen), macht dem methodischen Vorgehen die Veränderungsspielräume auf, die für eine erfolgreiche Beschreibung der seelischen Wirklichkeit notwendig sind.
Foto: pixabay
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