Wirklichkeit stellt sich her

 



Wirklichkeit stellt sich her


Deutung findet in unseren Taten statt

Alles was wir tun, legt die Welt aus, so wie es sonst jede explizite Deutung auch tut. Und soweit unser Tun an Reaktionen interessiert ist, geschieht das Ganze immer so, als ob es die Welt wie in einem Nebenbei zu anderen Handlungsmotiven auch auf dieses Bild hin befragen wollte. Unser Handeln „bekennt sich“ gewollt oder ungewollt zu einem bestimmten Bild von Wirklichkeit, das zu einer darauf bezogenen Reaktion herausfordert. Wir können gar nicht anders. Alles, was uns inhaltlich dann entgegentritt, nehmen wir, wenn auch nicht sprachlich gefasst, als eine Antwort auf die von uns dabei immer auch mitgestellte Frage. Im weiteren Fortschreiten unseres Umgangs mit dem Geschehen legen wir alles, was wir erfahren, auch als eine Antwort auf die vorausgegangenen impliziten und das Kontextuelle betreffende Fragen aus. Wir machen das aber nicht bewusst – auch wenn uns das durch ein innerliches Bilden von entsprechenden Sätzen und durch ein Protokollieren solcher „Überlegungen“ durchaus möglich wäre. Dass wir es tun, zeigt sich in der Art unseres weiteren Umgehens mit der Sache.

Vom atmosphärisch Offenem zur Manifestation

Die sich heraushebenden und uns interessierenden erlebbaren Zusammenhänge tauschen sich durch ein gegenseitiges sich Befragen (sinnmäßiges Auslegen) untereinander aus. Ein solcher Austauschprozess setzt sich in unserem Denken wie in einer sich steigernden Entwicklung fort, welche dann auf einmal nach einem bestimmten Ereignis kollabiert. Letzteres bedeutet, dass es immer wieder zu einem Punkt kommt, an dem es gleichsam blitzt und eine sinnlich endliche Gewissheit vor uns steht. Dann glauben wir, dass es uns an einer bestimmten Sache (von Anfang an) gelegen hat und dass wir darin grade enttäuscht werden oder eine glückliche Bestätigung erfahren (Wunscherfüllung oder Versagung).

Potenzialität, Austausch und Kollaps

Tatsächlich können die Antworten der Wirklichkeit aber nicht allein aus sich heraus uns den entscheidenden Wink auf das geben, was wir als konkret Fragende am Ende tatsächlich zu einer Klarheit bringen wollen. Warum kann das nicht geschehen? Weil es die vermeintlich alles bestimmende Sache nur verschwommen, gleichsam atmosphärisch gibt und eine Existenz derselben im klassischen Sinne nicht ausmachbar ist. Die Antwort der Wirklichkeit ist ihrem Wesen nach einerseits völlig offen, andererseits aber auch streng in sich festgelegt, weil alle Antworten zusammengenommen ohne Widerspruch auf mindestens eine der endlich möglichen (denkbaren) Manifestationen am Ende eines Austauschprozesses zu passen haben. Der zuletzt sich als Erlebnis einstellende Denkinhalt folgt einem Gesetz, demnach immer erst das zeitlich zweite Element das bedeutungsmäßig erste hervorzubringen vermag. Das nachfolgend Zweite gibt dem zeitlich Ersten erst den ihm tatsächlich zukommenden Sinn.

Zwanghaftes Handeln als Fluchtweg

Der Austausch mit der Wirklichkeit sollte sich immer auf Manifestationen hinbewegen, die sich im Sinne dieses Denktypus verstehen. Es kann aber auch anders laufen und der versagte Wunsch stellt sich in den Mittelpunkt und wird zum Problem.

Dann wird diese Erfahrung gerne zu einem Hebel umgebaut mit einer raffiniert angelegten Abkürzung, das Ziel um jeden Preis dennoch erreichen zu wollen. Der Betroffene folgt dann in seinem Handeln der Logik: Wenn ich nur etwas Bestimmtes weglassen oder anders drehen würde, dürfte mir die Erfüllung des Wunsches auf keinen Fall versagt bleiben. Das bringt dann eine alles übertönende Geschichtenbildung in das auf ein probierendes Auslegen gebaute und weit offene Spiel hinein und lässt die Wirklichkeit ihrem Wesen nach nun als vorbestimmt erscheinen.

Gleichnis zur umgedrehten Dynamik

Das menschliche Denken hat eine Natur, über die wir uns im Wesentlichen täuschen. Ich habe im Vorausgehenden versucht, auf diesen Umstand in einer zusammenfassenden und recht formal bleibenden Weise hinzuweisen. Das liegt daran, dass ich diesen komplexen Zusammenhang erst einmal in einer Skizze festhalten wollte. Um die dabei angesprochenen Verhältnisse etwas genauer zu verstehen, habe ich mir ein Gleichnis ausgedacht. Es ist das umgekehrte Ratespiel 20. Ich empfehle es, versuchsweise auf die einzelnen Wendungen in meinem Beitrag anzuwenden.

Dabei hilft es, wenn wir den Ratenden in meinem Beispiel mit demjenigen gleichsetzen, der versucht, einer bestimmten Wirklichkeit auf den Grund zu gehen. Die Gruppe, welche die Antworten gibt, können wir dann mit der Wirklichkeit gleichsetzen, die es versteht, mit großer Freiheit auf alle unsere Klärungsversuche Antworten zu geben.

Hier nun das 20 Fragen Ratespiel: Eine Gruppe schickt ein Mitglied nach draußen mit dem Hinweis, dass man sich einen zu erratenden Gegenstand ausdenke, der mit 20 Ja-Nein-Fragen dann von dem Betreffenden zu erraten sei. Was nun passiert ist aber Folgendes: die Gruppe entscheidet sich, der Abmachung widersprechend, gar keinen Gegenstand festzulegen, sondern es jedem Mitglied selbst zu überlassen, nach freiem Willen sein Ja oder Nein zu den einzelnen Fragen des Ratenden zu geben. Gleichzeitig entscheidet die Gruppe, den Ratenden in dem Glauben zu belassen, dass sie sich auf einen bestimmten Gegenstand verabredet hätten. Dann holen sie den Betreffenden herein und das Raten beginnt.

Alle Ja-Nein-Fragen des Hereingeholten werden jetzt spontan und mehr oder weniger nach Laune beantwortet – mit der Einschränkung, dass der Befragte immer auch eine Lösung parat haben muss, die zu den bisher getroffenen Entscheidungen passt. Der nächste tut dasselbe und so engt sich die Entscheidungsfreiheit immer weiter ein.

Irgendwann geht das Spiel zu Ende und der Ratende wird mit einem Erfolg belohnt, weil man ihm sagt, das Gesuchte gefunden zu haben. Er hat das Gefühl, es durch sein kluges Fragen geschafft zu haben. Tatsächlich hat die Gruppe aber etwas Besonderes geleistet: Sie hat es geschafft, bei jeder Befragung so frei wie möglich zu antworten, wie mittels Münzwurf etwa. Alle Gruppenmitglieder antworteten der persönlichen Laune folgend. Sie achteten aber streng darauf, dass die Aussagen auf den Weg zur Eingrenzung der unfestgelegten, also noch offenen Lösung, sich nicht widersprachen. Sie folgten insofern der Vorgabe, immer in der Lage zu sein, ein Ergebnis liefern zu können, das allen Festlegungen, die einengend durch die bisher getroffenen Entscheidungen gefallen sind, Rechnung trägt.

Wie im Ratespiel so auch im Leben

Schauen wir noch einmal auf das, was der Ratende in dem Spiel macht. Er setzt im Prinzip ein großangelegtes Ausschlussverfahren in Gang, in dem er fortlaufend eine Vermutung aufstellt, die der Wirklichkeit einen Ausschluss erzwingt. Die Entwicklung läuft dabei wie folgt: Wenn es das eine (die vermutete Richtung betreffend) nicht ist, muss das Gegebene eben in der anderen (alternativen) Richtung zu finden sein. Und so engt sich das potenziell Mögliche - von dem man irrtümlicherweise glaubt, dass es dies als verabredetes Endliches bereits gibt, immer weiter ein.

Der Mensch in seinen ganz normalen Taten und nicht nur in seinem Denken macht das Gleiche, was auch der Ratende in dem genannten Ratespiel tut. Ohne es in seiner sich selbstverstärkenden Bedeutung zu bemerken, mutmaßt er sich in eine, Zug um Zug dichter werdende Wirklichkeit hinein, die sich ihm wie durch eine Vorbestimmung auf alle in ihr enthaltenen Fragen hin als eine immer schon fertige Wirklichkeit entgegenstellt. 

Werner Mikus



Foto: pixa-bay


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