Teil 2/5: Denken in Paradoxien und psychodoxen Ordnungen
Drei Methoden und ein Problem
Dieses geheime Verstehen von Seelischem (Zweiäuglein-Natur), mit der wir im Allgemeinen ganz gut zurechtkommen, denken wir uns nun von zwei abweichenden Methoden umstellt, die damals das ernsthafte und wissenschaftliche Umgehen mit dem Menschen bestimmten. Und bevor ich diese beiden Methoden oder Konzepte im Bild des Einäugleins und des Dreiäugleins erörtern möchte, will ich noch schnell den Schauplatz nennen, an dem diese auf eine Neubelebung der Zweiäugleinmethode gestoßen sind.
Mit dem Ort ist die Psychiatrie gemeint, so wie sie vor ca. 120 Jahren ausgesehen hat. Wir können sagen, dass sie damals noch ein recht peinliches Feld für die Ansprüche einer Wissenschaft war: Der Psychiater stand in der Hierarchie der Medizin, ähnlich wie das Zweiäuglein in seiner Familie rangmäßig ziemlich weit unten. Kranken, in denen man oftmals nur Simulanten sah, glaubte man weitgehend mit Apellen an die Vernunft oder mit kalten Bädern u.ä. begegnen zu müssen. Den Neurologen oder Psychiatern, und da denke ich an Sigmund Freud, der auf diesem Feld damals gearbeitet hatte, ging es nicht viel besser als dem Zweiäuglein im Märchen, was dort bekanntlich die Ziegen hüten musste. In einem übertragenen Sinne ging es auch beim Umgang mit den Hysterikern um eine Art von Ziegenhüten (so im Sinne der ungeliebten, unangenehmen Arbeit jedenfalls). Aber eine alte weise Frau flüsterte dem Zweiäuglein, dass das Hüten der Ziege ein lohnendes Geheimnis in sich trüge. Kurz: Freud, der in meiner Übersetzung jetzt für das Zweiäuglein steht, bzw. für die Zweiäugleinmethode, sagte Ja zu dieser Arbeit und entdeckte eine Art von Tischlein-deck-dich. Für den neugierigen Forscher auf dem Gebiet der psychoneurotischen Phänomene war das eine wahre Fundgrube. Was er auf diesem Feld der Beobachtung zu sehen bekam, führte ihn zur Einsicht in die Gesetze des sogenannten unbewussten Seelenlebens, der Traumarbeit und der Fehlleistungen z.B.
Aber jetzt schauen wir erst mal, wie angekündigt auf die beiden Geschwister in dem Märchen. Ein- und Dreiäuglein vertreten symbolisch die beiden Methoden die zu der Zeit als Freud seine überraschenden Beobachtungen machte, an der Tagesordnung waren.
Die andere Methode (2.), die bei der Beurteilung der hysterischen Phänomene an der Tagesordnung war, geht davon aus, dass der Kranke nur simuliert. Diese Methode geht von einem wahren Geschehen aus, von welchem sich ein nur vorgetäuschtes Geschehen absetzen lässt. Hier steht der Widerspruch in Form einer Polarität (wahr/falsch) im Mittelpunkt. Was nicht passt wird methodisch durch den zu Beginn bereits angesprochenen Kniff zur Auflösung gebracht. Wie von einer dritten Position, also von außen, wird hier ein „Wahres“ und dort ein „Falsches“ gesetzt. Das Wahre ist das, was Physiologie und Neurologie ableitbar machen und das Falsche ist das widersprechende Phänomen, was der Hysteriker uns liefert, weil er z.B. eine Reizempfindung nicht hat, die er aber rein neurologisch haben müsste. Diese Methode setzt also zwei Perspektiven an: Die eine Perspektive handelt von dem Ineinander rein physiologischer Abläufe und die andere von einem Seelischen, was sich durch ein Vortäuschen und Lügen störend in die ärztliche Arbeit an der Physiologie des Körpers einmischen kann. Wie aus einer Gottesperspektive lässt sich mal die eine und mal die andere Perspektive zur Beschreibung der Phänomene heranziehen. Beides tut sich in der wissenschaftlichen Modellbildung gegenseitig nichts und stellt somit keinen wirklichen Gegensatz dar.
Bei dieser Methode handelt es sich um ein generelles Muster, das allgemein in der klassischen Naturwissenschaft seine Anwendung findet, ebenso wie in den verschiedenen, daran angelehnten Kombinationswissenschaften (Beispiel Medizin). Da hier das Dritte die zentrale Rolle spielt, können wir dieser Methode im Rahmen meines Gleichnisses, die Dreiäugleinmethode nennen.
Das so genannte Ziegenhüten des Zweiäugleins (Freud im Problemfeld der Psychiatrie und Hysterie) brachte dabei etwas ganz Wunderbares an den Tag, es war für den, der zweiäugig auf die Sache schauen konnte, ein reich gedeckter Tisch, ein wahres Tischlein-Deck-Dich (Wille und Gegenwille, Logik des Unbewussten, Traumarbeit und Fehlleistung z.B.).
Zwischenüberlegung: Die klassische Naturwissenschaft
In diesem Sinne konnte die Neurologie z.B. einiges Sichere über die Abläufe in den neuronalen Bahnen sagen. Ihre Vorhersagen versagten aber in bestimmten Phänomenbereichen und hierzu gehörte der Bereich der hysterischen Phänomene. Nehmen wir ein Beispiel: Der Neurologe konnte z.B. die Unfähigkeit des Patienten, einen bestimmten Reiz zu empfinden, nicht erklären, denn alle Elemente der Reizkette funktionierten. Wenn er genau das in seinem Befund (bzw. Diagnose) beschrieben hätte, wäre diese Frage als wissenschaftlich noch nicht beantwortbar anerkannt und für eine weitere Klärung offen gehalten worden. Genau das taten aber damals viele Neurologen nicht. Sie machten vielmehr Aussagen, die ihre Wissenschaft überschritten. Kurz: Sie versuchten über die nachweisbaren neurologischen Zusammenhänge hinaus Spekulationen über das ausgeklammerte Seelenleben mit einzubeziehen. Und solche Aussagen sahen dann in etwa so aus: „Eigentlich funktioniert die Wahrnehmung, der Patient täuscht uns nur eine Stumpfheit gegenüber dem Reiz vor.“ Man sagte damals „er simuliert“. Die Naturwissenschaft handelte hier in einer Art übergriffigem oder auch naiven Deuten so wie jemand, der mithilfe einer Schallwellenanalyse etwas über die „Seele“ der Musik aussagen wollte.
(Fortsetzung 3/5)
Autor: Werner Mikus
Das Märchen zum Nachlesen
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