Ist das Seelische ein zusätzliches Organ?

 



Vorbemerkung:

Wir können im Seelischen ein Geschehen sehen, das übergreifend und nicht nur im unmittelbar menschlichen Bereich sein Erscheinen hat. Die Psychologie von heute geht allerdings kaum darauf ein. Vielmehr wendet sie sich über die eine oder andere Modellvorstellung ihren Phänomenen des Erlebens und Verhaltens zu. Das geschieht z.B. über das Instanzenmodell (in der klassischen Psychoanalyse) oder allgemeiner dort auch über das Bild von einem "Seelischen Apparat".  Mit solchen und ähnlichen Konstrukten zeigt sich die Psychologie  bereit, zugungsten einer wissenschaftlichen Haltung auf letzte Erklärungen verzichten zu wollen. Im Ganzen zeigt sie sich aber noch von einer anderen Seite her bestimmt. Insgeheim scheint sie nämlich der Vorstellung zu folgen, dass es sich mit dem Seelischen ganz allgemein so verhalte wie mit einem zusätzlichen und besonderen menschlichen "Organ". Erst wenn dieser besondere Dreh gesehen und in seinem Raffinement verstanden wird, kann die Psychologie sich in eine Krise begeben und sich auf einen Verstehenszusammenhang einlassen, in dessen Mittelpunkt das Gleichnishafte steht. Für einen solchen Wandel wirbt der vorliegende Beitrag.
 

Die Natur des Seelischen neu verstanden

Seelisches von seiner Funktion her gedacht

Wie gehen wir mit dem Seelischen in der Wissenschaft, aber auch in unserem Alltag um? Nehmen wir als Beispiel eine bestimmte Befindlichkeit, z.B. die Vorfreude auf ein anstehendes Ereignis. Wir werden die Vorfreude als die Ausdrucksbildung eines Seelischen nehmen, das wie ein zum Menschen gehörendes "Organ" einen strukturellen Beitrag zum Gesamtgeschehen leistet (Freud z.B. sprach von einem „Seelischen Apparat“, der das Geschehen organisiert). Dieses besondere Organ, und davon gehen wir aus, ist dazu da, ebenso wie die körperlichen Organe des Menschen, wichtige Dienste zur Erhaltung und Entwicklung unseres menschlichen Daseins zu leisten. Die besonderen Leistungen bestehen in diesem Fall darin, eine Beziehung zu den Mitmenschen herzustellen und zu der Welt in der wir leben ganz allgemein. Es hilft Situationen einzuschätzen und die Interessen sowohl des körperlichen als auch des persönlichen Seins zu vertreten, sowie eine entsprechende persönliche Einheit zu entwickeln. Es ermöglicht dem Menschen, Probehandlungen in Form eines Denkens durchzuführen und Zwecksetzungen sowie Motivationen aufzubauen. Wie jedes andere Organ kann auch dieses krank werden. Wir können es analysieren, auf sein Funktionieren hin überprüfen, und danach forschen, was ihm mehr oder weniger guttut. Dieser so verstandene Begriff von Psyche ist nirgendwo als Definition, jedenfalls nicht in dieser Deutlichkeit zu finden, er beschreibt aber sehr gut, wie wir mit dem Seelischen umgehen, auch wenn wir davon meistens nichts wissen. 

Seelisches von seiner Natur her gedacht

Im Gegensatz zu diesem Verständnis vom Seelischen lässt sich auch ein anderes Verstehen von Psyche beobachten, das sich in den letzten Jahren parallel hierzu entwickelt hat. Hier wird das Seelische als ein Geschehenskomplex verstanden, in welchem die Qualität des Gleichnishaften das Sagen hat. Es handelt sich dabei um eine Eigenschaft, die wir überall vorfinden und nicht nur in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Menschen. Das Gleichnishafte hat Ereignischarakter, es ist nicht wie eine feste Einrichtung analog eines Organs in der Welt. Es findet in Wiederholung und durchgehend statt und das nicht ohne Regel. Die Natur des Seelischen studieren heißt dann, die Natur der Gleichnishaftigkeit erforschen und von ihrem Wesen her beginnen wir das Seelische zu verstehen. Eine Geschichte, welche bestimmte Ereignisse in ein Bild zusammenbringt (z.B. die Vorbereitung für eine Geburtstagsüberraschung) setzt einen Prozess in Gang, den wir als einen seelischen wahrnehmen. Das tun wir aber, ohne uns darüber Gedanken zu machen, wie und ob sich überhaupt ein solcher Prozess, der sich aus vielen Personen und Dingen zusammensetzt, von einem Seelischen her ableiten lässt, was sich an dem einfachen Bild eines menschlichen Organs orientiert. Wir sehen diesen Prozess intuitiv als einen seelischen an, weil in seinem Mittepunkt klar und deutlich erlebbare Zusammenhänge stehen. Wenn wir davon ausgehen, dass die Wirklichkeit erlebbar verfasst ist, und sie dementsprechend beschreiben, gehen wir in einem ersten Schritt auf das neue Bild vom Seelischen mit seiner besonderen Natur der Gleichnishaftigkeit zu. 

Erlebbare Zusammenhänge und manifestes Erleben

Von der Gleichnishaftigkeit kommen wir zu dem Ereignis des Erlebens auf der einen und den Prozessen der erlebbaren Zusammenhänge auf der anderen Seite. Was unterscheidet ein Erleben von einem erlebbaren Zusammenhang? Worin besteht das Wesen eines Erlebens? Diese Fragen hängen eng mit der Gleichnishaftigkeit zusammen. Erleben ist das sich Finden einer Sache in einer anderen. Die besondere Angespanntheit des Wartens auf die Erfüllung eines versprochenen Ereignisses z.B., kann sich plötzlich im Gleichnis eines bevorstehenden ersten Rendezvous wiederfinden. Das Rendezvousbild wird aus seiner potenziellen Wirklichkeit heraus zu einem Bild für das auf Ausdruck drängende besondere Warten, mit dem es nicht vorher schon in dieser Beziehung gestanden hat. Das „in den Dienst treten“ dieses neuen Zusammenhangs ist genau der Moment den wir als den Moment des eintretenden Erlebens kennen. 
Zusammengefasst: Eine Befindlichkeit, die wir noch im Status eines erlebbaren Zusammenhangs also im Potenziellen verorten müssen (die schwer zu fassende Angespanntheit des Wartens im Beispielsfall), findet sich in dem Bild einer bestimmten anderen Sache wieder und zwar als eine manifeste eigene Realität. Ein solches Geschehen kann als das Ereignis eines Erlebens verstanden werden. Das Erleben ist also die Manifestation einer Befindlichkeit, die sich im Bild eines Ereignisses wiederfindet. Umgekehrt bedeutet das: Was sich nicht im Bild eines Anderen findet oder wiederfindet wird auch nicht erlebt. 
Weil das Erleben feststellt, wie sich Eins im Anderen findet, könnten wir auch von einem einfachen Wahrnehmen sprechen. Genauer betrachtet ist hiermit aber der Umstand gemeint, dass etwas „für wahr“ genommen wird und das spielt auf ein Wirklichwerden an. Dabei zeigt sich die Wirklichkeit als etwas Doppeltes. Denn ein Element der potenziellen Wirklichkeit (erlebbarer Zusammenhang) wechselt in ein Element der manifesten Wirklichkeit hinüber.

Und an dieser Stelle lohnt es sich auf die Bedeutung des Begriffs vom Unbewussten einzugehen, der ja eine enorme Veränderung im Verstehen der seelischen Zusammenhänge gebracht hat. Das Erleben kann Qualitäten haben, die uns nicht bewusst oder sogar bewusstseinsunfähig sind. Verdrängung oder Spaltung werden in der Tiefenpsychologie zum Thema gemacht. Wenn wir das Seelische auf die erlebbaren Zusammenhänge hin beschreiben, werden wir erst einmal auf die geschichtenhafte und in diesem Sinne auch gleichnishafte Natur des Seelischen aufmerksam und die Unterscheidung in ein Bewusst oder Unbewusst bekommt eine diesbezüglich eigene Bedeutung und Funktion: 

Erlebbare Zusammenhänge müssen nämlich nicht erlebt sein, um zu wirken. Sie verstehen es, auf eigene Weise wirksam mit im Spiel zu sein. So können sie z.B. als potenzielle Fortsetzungsangebote und Möglichkeiten von Geschichten mitspielen und auf diesem Weg Einfluss auf das manifeste Geschehen ausüben. Eine sich als erlebbar mitbewegende Geschichte kann als ein Angebot bereitstehen, ein bestimmtes Geschehen mit einem Schlag drehen und in eine andere Richtung bringen zu können. Allein das Bestehen dieses Angebots hat schon seine Wirkung.

Die Bedeutung des Atmosphärischen

Die Behandlung und das Verstehen der potenziellen Zusammenhänge findet eine besondere Herausforderung in dem Geschehen des Atmosphärischen, das wir immer und überall beobachten können. Hier sind die Geschichten in einer vielfach verschränkten Weise miteinander am Werk. Es ist eine besondere Herausforderung, die Potenziale in ihren Entwicklungen und Übergängen zu analysieren. Hierauf ist die Psychologie des Atmosphärischen aufgebaut, so wie wir sie im Konzept der bildanalytischen Psychologie finden. Hier geht man davon aus, dass die Wirklichkeit erlebbar verfasst ist und dass wir immer und überall erlebbare Zusammenhänge als zutreffende Beschreibungen der Wirklichkeit finden können. Obwohl diese Zusammenhänge im Wesentlichen eine Potenzialität darstellen und nur nach bestimmten Regeln in ein manifestes Verhalten und Erleben übergehen, bestimmen sie doch entscheidend das Geschehen mit. Wir müssen daher ein ganz bestimmtes methodisches Umgehen mit dem Seelischen entwickeln. In den psychischen Prozessen sind die potenziellen, sprich die erlebbaren Zusammenhänge, mit den ganz konkreten Ereignissen des Erlebens und Verhaltens in eins gebracht. 

Das Problem der doppelten Natur des Seelischen, so wie sie im Gleichnishaften begründet liegt, findet in der Begrifflichkeit des Atmosphärischen eine Fassung, mit der sich weitere wichtige Zusammenhänge erschließen lassen. Kurz: Es gibt ein Wirken erlebbarer Zusammenhänge, das seinen Schwerpunkt in dem Potenziellen hat und mit dem wir sprachlich angemessen umgehen müssen. Wenn wir die Schwebezustände von Entwicklungen nicht aushalten, sondern sie bewertend über unsere Gefühle an irgendeinem Punkt vorschnell festmachen wollen, zerstören wir möglicher Weise die Entwicklung auf eine Ausdrucksbildung hin, die den Schlüssel für einen bestimmten Zusammenhang in sich birgt. Wir müssen deshalb Beschreibungen finden, die bestimmte Entscheidungen offenlassen, aber dennoch das zentrale Geschehen in ein Bild bringen. Das sind meist komplexe Geschichten aus der Literatur z.B. der Märchen, Mythen und Sagen. Wir müssen mit der Sache in Fühlung gehen, statt Gefühle auszuprobieren, die eine Sache um jeden Preis emotional in die Enge bringen und zu bewerten versuchen. Eine angemessen rahmende Gefühlsgeschichte muss uns den Spielraum geben, den erlebbaren Zusammenhängen, die eine Mitbeteiligung in der Sache haben, gerecht zu werden.

In eigener Sache

Mit der Ausbildung zum Entwicklungstherapeuten hat die Bildanalytische Psychologie vor mehr als 30 Jahren einen Ort geschaffen, an dem ein Denken von diesem Bild des Seelischen aus erprobt und eingeübt werden kann. Die Gleichnishaftigkeit steht hier im Mittelpunkt des Verstehens seelischer Wirklichkeit. Dabei konnten in den letzten Jahren einige Entdeckungen gemacht werden, die von dem Bild eines seelischen Organs her wahrscheinlich nicht zu finden gewesen wären. Dazu dann an anderer Stelle mehr. Die Psychoanalyse in ihren Grundimpulsen lebt hier auf eine lebendige Weise fort.

 Autor: Werner Mikus


Foto: pixabay

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