Von Literatur und Autorenschaft lernen
Seelisches und Literatur kommen zusammen
Seelisches ereignet
sich in Geschichten. In diesen findet ein Zusammentreffen ganz verschiedener
Dinge statt, die wir zunächst nicht dem Seelischen zuordnen würden. Es können ein bestimmter Ort, ein besonderer Tag im Jahr, sowie eine
Nachricht mit Emoji eine wichtige Rolle darin spielen. Dinge, die wir
normalerweise ganz verschiedenen Wirklichkeitsbereichen zuordnen, verbinden
sich in einer Geschichte auf einen bestimmten inneren Zusammenhang hin (z.B. der
geheimgehaltene Geburtstag). Wir können sogar sagen, dass alles Seelische
im Grunde von solchen geschichtenhaften Ordnungen getragen wird.
Das psychische
Geschehen hat seine substanziellen Voraussetzungen in einer überall
bereitstehenden Gleichnishaftigkeit und in den dementsprechend erlebbaren
Zusammenhängen. Letztere bieten sich gegenseitig als potenzielle und manifeste
Neubewertungen im Sinne einer Geschichtenbildung an.
Der auktoriale Erzähler, ein methodisches Gleichnis
Wenn wir uns ein Bild
davon machen wollen, welche Seelenlandschaften unserer
Seelenforschung weitgehend ungenutzt offenstehen, kann uns das Gleichnis von
den Erzählformen eine Hilfe sein (gemeint ist die
Literatur vom Wesen des Epischen):
Der Mensch steht von hier aus gesehen über zwei verschiedene Erzählformen zur Welt. Die erste Form ist die des sogenannten auktorialen Erzählens. Dabei geht es um einen Erzähler, der die Fähigkeit hat, allen potenziellen und geschichtenhaften Zusammenhängen nachzugehen. An keinen Erzählfigurenhorizont gebunden, kann er allen möglichen Zusammenhängen Raum und Bedeutung verleihen und diesen in allen möglichen Einzelheiten und mit wechselnder Perspektive lustvoll nachgehen. Sein Beschreibungsstil ist allgemein die dritte Person. Die zweite Form ist die des Ich-Erzählers (es handelt sich hierbei um eine Sonderform der sogenannten personalen Perspektive). Sie engt die Betrachtungsweise des Erzählers auf die Dinge ein, die nur der Icherzähler wissen kann. Und übertragen auf die Psychologie von heute ist es diese Ich-Erzählerrolle, in welcher wir uns leider wie selbstverständlich eingerichtet haben.
Die auktoriale
Erzählperspektive, die uns mit der Fülle und dem Reichtum unserer
Seelenwirklichkeit in Verbindung bringt, scheint uns Probleme zu machen.
Wahrscheinlich fürchten wir eine größere Verantwortung und eine
Herausforderung, der wir uns nicht gewachsen fühlen. Lieber geben
wir die großen Zusammenhänge an die Zuständigkeit anderer Wissenschaften wie
die der Soziologie oder der Biologie oder auch der Kulturgeschichte weiter,
statt die Zusammenhänge als eine Herausforderung für ein erweiterungsfähiges
psychologisches Denken anzunehmen. Lieber richten wir uns im Format des
überschaubaren Königtums einer Autorenschaft ein, in welchem es um die
gesicherte Perspektive eines Icherzählers geht. Das sich selbst reflektierende
Seelische feiert dann auf diese Weise seine Feste. Die Fülle einer
Seelenlandschaft, welche die geschichtenhafte Wirklichkeit des Seelischen zu
bieten hat, wird preisgegeben für den Rausch einer ich-fokussierten kleineren
aber offenbar sichereren Seligkeit.
Der Literaturschaffende kann uns darauf aufmerksam machen: Der auktoriale Erzähler zeigt uns, wie das kunstvoll eingesetzte Perspektivische zu einer Vertiefung der seelischen Zusammenhänge führen und der Komplexität gerecht werden kann. Die Kunst ist unseren Neuorientierungsversuchen oft voraus. Die Psychologie kann etwas von ihr lernen.
Autor: Werner Mikus
Bild: pixabay
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