Denken in Paradoxien und psychodoxen Ordnungen

Der folgende Beitrag ist inzwischen in der
Fachzeitschrift 
"Entwicklungstherapie" (Heft 2012) erschienen. Hier ist er in
5 Teilen und mit anderen (nämlich Internet-verlinkten) Bildern zu lesen:

(Teil 1/5)

Paradoxie als unauflösbarer Widerspruch
Paradoxien lassen sich unter vielerlei Gesichtspunkten betrachten, z.B. unter sprachlichen, inhaltlich-faktischen oder auch unter rein logischen Gesichtspunkten. Eine solche systematische Art der Betrachtung des Paradoxiebegriffs möchte ich hier aber nicht entwickeln. Ich gehe im Folgenden vielmehr der Frage nach, welche Rolle und Bedeutung die Paradoxie oder das Denken in Paradoxien für die Wissenschaft der Psychologie in ihrer Entstehung und Weiterentwicklung hat. Mein eigenes psychologisches Denken folgt dabei einem bildanalytischem Konzept. Dieses setzt, wie ich zeigen werde, das psychologische Denken, so wie es sich bis heute entwickelt hat, auf eine konsequente Weise fort. Und dabei spielt die Paradoxie, und wie ich noch später ausführen werde das psychodoxe Denken eine entscheidende Rolle. Die Paradoxie steht gewissermaßen am Anfang einer Entstehung der neuen Wissenschaft vom Seelischen. Deshalb schauen wir uns jetzt an, was mit einer Paradoxie im Zusammenhang mit dem Psychischen denn genau gemeint ist und worum es im Wesentlichen dabei geht.

Mit einer Paradoxie meine ich einen Zusammenhang der von einem Widerspruch lebt. Der Widerspruch der hier gemeint ist, ist von prinzipieller Natur, und lässt sich, solange wir es mit einer Paradoxie zu tun haben, tatsächlich nicht auflösen. Häufig tun wir aber so, als könnten wir diese paradoxe Einheit durch ein genaueres Hinsehen z.B. oder durch ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge am Ende doch in etwas Widerspruchsfreies überführen. Die sprachlichen Vorgaben unserer Kultur, lassen uns ganz unbemerkt in dieser Weise voreingenommen sein. Nicht selten fühlen wir aber das Unauflösbare und setzen uns dann doch mit einem Augenzwinkern darüber hinweg: Sind doch andere Ziele für uns oft wichtiger als eine psychologisch korrekte Beschreibung. Im Folgenden möchte ich aber nun dem Paradoxen und seiner Bedeutung für das Seelische einen ganz besonderen Platz einräumen - einen Platz, den es in der Wissenschaft vom Seelischen, wie ich meine, und vielleicht auch darüber hinaus, verdient hat.

Täuschung
Ein erstes Problem, auf das ich eingehen möchte besteht darin, dass weite Teile der Wissenschaftsgemeinschaft eine Unauflösbarkeit von Widersprüchen schon als bloße Idee, nicht gerne hinnehmen. Vielmehr hofft man insgeheim darauf, dass alle Paradoxien - wenn sie nicht ohnehin auf einen Fehler in der Form zurückgehen - sich irgendwann einmal werden auflösen lassen. Wir beginnen diese Einstellung zu verstehen, wenn wir nachvollziehen können, auf welche Weise diese Hoffnung wachgehalten werden kann. Und dieser Kniff, der eine solche Erwartung aufrechterhalten hilft, sieht folgendermaßen aus:

Man betrachtet die paradoxe Einheit zunächst einmal wie von außen, so wie von einer Dritten Position aus, die gleichsam über den darin enthaltenden Gegensätzen steht. Der Gegensatz, von dem die konkrete Paradoxie handelt, wird dabei nun als das Produkt oder Ergebnis zweier Perspektiven gesehen, die gleichsam von außen an die Sache herangetragen werden Aus der ersten Perspektive leitet sich die eine und aus der zweiten Perspektive die andere Qualität ab. Auf diese Weise erhalten wir Qualitäten, die sich widersprechen, sich aber niemals direkt in die Quere kommen. Beide Quälitäten sind hier fein säuberlich getrennt und bei rechtem Licht betrachtet, mittels der beiden Perspektiven auch je an einem eigenen Ort zu Hause. Der innere Widerspruch einer Paradoxie scheint auf diese Weise wie aus der Welt geschafft. Wir wenden diese Methode alltäglich an, z.B. wenn wir sagen: Dieses Haus ist zu groß und zu klein zugleich. Auf den Widerspruch angesprochen gelingt es uns schnell, jeden Verdacht auf etwas Unauflösbares zu vertreiben. Wir sagen dann z.B.: Das Haus ist für den Einzelnen zu groß und für eine Familie zu klein, das sei es, was wir gemeint haben. Und schon haben wir aus einem paradoxen Gegensatz einen Widerspruch gemacht, der sich ordentlich auf zwei Ebenen verteilt - und das Paradox ist weg.
- Bildquelle, siehe unten -

An der Gestalt eines paradoxen Würfels können wir uns dasselbe auch auf eine grafische Weise deutlich machen. Wollen wir in der vorliegenden Zeichnung störungsfrei einen Würfel sehen, müssen wir einen Teil des Bildes ausblenden. Hierzu haben wir zwei Möglichkeiten. Entweder wir decken die untere Hälfte ab und erhalten einen Würfel von oben gesehen oder wir decken die obere Hälfte ab und erhalten einen Würfel von unten gesehen. In beiden Fällen produzieren wir ein jeweils widerspruchfreies Bild des Ganzen. Wir können also auch auf eine gemeinsame Gestalt schließen, auf einen Würfel, den wir je nach Perspektivenwahl in unterschiedlicher Weise vor uns haben. Das Gebilde aber, was diese besondere Interpretation zulässt, gibt die besagte Klarheit nur her, wenn wir bestimmte Teile des Ganzen abdecken. Im anderen Falle halten uns zwei handfeste Störungen in den beiden wechselnden Aufsichten von einer solchen Lösung und Interpretation des Ganzen ab.

Das Ausblenden oder Abdecken bestimmter Teile symbolisiert hier die Annahme, dass wir uns den Wirkungen des Ganzen gezielt entziehen können. Das aber entspricht nicht der Natur der seelischen Wirklichkeit. Im Seelischen sind wir vielmehr immer mittendrin und stehen nie an einem Ort, von welchem aus wir die Wirkungen eines Ganzen (eines Systems) einfach ausschalten können. Eine Methode, die dem Seelischen angemessen ist, muss dieses Mittendrinsein anders würdigen und das Unauflösbare von Widersprüchen aushalten. Sie muss sich fragen, was die Unauflösbarkeit selbst zusammenhält! Auf diese Weise muss sie nach einer Ordnung suchen. Damit stellt sie in der Tat einen neuen und sehr hohen Anspruch an ihr eigenes Tun. Auf die Zeichnung übertragen, heißt das, sie muss die raffinierte, in Widersprüchen lebende Konstruktion herausarbeiten, die zu der Täuschungsmethode selbst den Anlass gibt.

Ein Märchen als Gleichnis
Im Folgenden möchte ich von einer psychologischen Sichtweise berichten, die sich auf eine neue Weise mit dem Problem der Unauflösbarkeit von Widersprüchen auseinandersetzt. Hierzu müssen wir uns zu einem bestimmten geschichtlichen Schauplatz begeben. Es ist die Psychiatrie des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts in Wien, der Ort, an dem die Psychoanalyse ihren Anfang nahm. Um zu veranschaulichen, auf welche Weise in Bezug auf die Bewertung des Paradoxen hier ein ganz neues Denken zu entstehen begann, möchte ich das Mittel eines Gleichnisses wählen. Gemeint ist das Märchen vom Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein aus den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm.



Zum Inhalt des Märchens
Drei Kinder, die sich durch ihre Augenzahl unterscheiden wachsen mit einer Mutter auf. Das Einäuglein und das Dreiäuglein sind die Stars der Familie. Die Mutter mit ihren beiden Favoriten erlaubt dem Zweiäuglein nur eine Randexistenz (beim Essen z.B. bekommt es immer nur die Reste). Das Zweiäuglein hat aber wie zum Ausgleich einen eigenen magischen Bereich mit einem echten Tischleindeckdich gefunden (da ist eine Ziege, die sie täglich hüten muss und welche ihr auf ein Sprüchlein, den ihr eine alte Frau verraten hat, immer einen vollen Tisch beschert). Mutter und Schwestern werden stutzig darüber, dass es der Verstoßenen bei allem Leid, das sie ihr zufügen, doch noch so gut geht, also versuchen sie hinter ihr Geheimnis zu kommen. Zunächst wird das Einäuglein zum Ziegenhüten mit auf die Wiese geschickt. Zweiäuglein versteht es aber, sein Schwesterchen in den Schlaf zu singen, bevor es sein Tischleindeckdich spricht. Es singt ihr ganz konkret das eine Auge in den Schlaf. Als das Dreiäuglein dran ist, geht  aber mit dem Schlaflied etwas schief. Zweiäuglein verwechselt die Worte zwei und drei miteinander und singt: "Dreiäuglein schläfst Du, Zweiäuglein wachst Du?". Eines der Augen bleibt dabei offen. Der schönen Eigenwelt und ihrem Zauber wird durch die Schlachtung des magischen Ziegentieres daraufhin ein Ende bereitet.
Dennoch, etwas konnte von dem Wundersamen weiterleben - wenn auch in verwandelter Gestalt.  Denn das Zweiäuglein hatte auf Rat des besagten weisen Weibleins die Eingeweide des Zickleins vor dem Hause vergraben. Und daraus hatte sich am Tag darauf ein Baum mit silbernen Zweigen und goldenen Früchten entwickelt!
Die Einzige nun, die diese Früchte abbrechen konnte, war das Zweiäuglein. Ansonsten änderte sich nicht viel in der kleinen Familie bis ein junger Ritter vorbei kam und sich über die goldenen Früchte freute. Zweiäuglein, verstecktgehalten unter einem umgestürztem Fass - traut sich in dieser Situation, durch das Herausrollen eines goldenen Apfels auf sich aufmerksam zu machen. Danach wird es von dem Ritter als die Einzige erkannt, welche die schönen Früchte brechen kann und auf eigenen Wunsch von demselben auch mit fortgenommen. Der Baum, von dem die beiden Schwestern und die Mutter dachten, dass er ihnen erhalten bliebe, um die Vorbeireisenden auch weiterhin in ein Staunen versetzen zu können, verschwand aber mit dem Zweiäuglein am nächsten Tag und folgte ihm nach. Jahre später, wie das Märchen berichtet, stehen dann zwei Frauen vor dem Schloss, in dem Zweiäuglein inzwischen lebt und betteln um ein Almosen. Es sind die Schwestern. Zweiäuglein nimmt die beiden auf, tut ihnen Gutes und pflegt sie, so dass diese ihr Tun bereuen - wie es bei den Brüdern Grimm heißt.

„Zweiäuglein“ oder der doppelte Blick
Was zunächst einmal an dem Märchen auffällt ist, dass hier das Abnorme (symbolisiert im Ein- und Dreiäugigen) vorgezogen wird vor dem Normalen. Das Alltägliche oder das Normale (symbolisiert im Zweiäuglein) wird sowohl von der Mutter als auch von den Geschwistern wie etwas Verächtliches behandelt und ausgiebig unterdrückt. Die alltägliche Umgehensweise mit dem Seelischen, dargestellt im Symbol des Zweiäugleins, wird hier offenbar zum Mittelpunkt einer spannenden Geschichte. Die Entwicklung zeigt wie sich Zweiäuglein aus einem fremdbestimmten Versorgtsein herausentwickelt, um schließlich von eigenem Orte aus, das Gold seiner Fähigkeiten mit der Welt teilen zu können. Mit den Schwestern, die durch das normale Leben in ihre Schranken verwiesenen werden, kommt es am Ende in einer reifen Art und Weise wieder zusammen.

Schauen wir uns also zunächst das Bild oder Gleichnis „Zweiäuglein“ etwas genauer an. Die Zahl „zwei“ als Augenzahl ist vollkommen normal und unauffällig. Auffallend sind vielmehr die beiden Geschwister, die ja als einäugig und dreiäugig beschrieben werden. Wenn das Zweiäugleinbild uns einen Hinweis auf etwas Eigenes und Besonderes geben will, dann ist es vielleicht die Anspielung auf einen „doppelten“ Blick mit dem wir uns in der Welt orientieren können. Der doppelte Blick des Zweiäugleins entspricht dem unspektakulären bzw. alltäglichen Umgang mit dem Seelischen: Und das bedeutet: Ein erster Blick bringt uns z.B. in Kontakt mit dem Versprechen, das in der jeweiligen Sache liegt, auf die wir uns einlassen wollen, und der zweite Blick setzt uns dann ahnungsvoll in Beziehung dazu, wie sich die besagte Sache auch in die genau falsche Richtung entwickeln kann.

Die Zweiäugleinmethode bedeutet also: Jede Sache gibt es in einem ersten und in einem zweiten Blick. Wie beim ganz normalen Stereo-Sehen des menschlichen Augenpaars, stehen diese Bilder nicht nebeneinander oder oszillieren in einem Nacheinander. Sie stehen vielmehr wie ein einziges Bild zusammen: Eines der beiden Bilder steht wie ein Nebenbild im Dienste des anderen und gibt diesem in einer gewissermaßen verschränkten Realisierung eine zusätzliche Orientierung und räumliche „Tiefe“.

Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Im Aufkeimen eines Verliebtheitsgefühles schwingt das potentielle Verlustleiden schon mit an, wenn sich das Aufwühlende einer Verliebtheit in uns aufbaut. Die Ambivalenz in der es bei der Zweiäuglein-Methode mit ihrem Entwicklungsversprechen und dem Gefühl für die Verkehrung derselben geht, bekennt sich zu einer Unauflösbarkeit von Widersprüchen. Jemand, der sehnsuchtsvoll auf seine/n Geliebte/n wartet, erfährt, dass das, was ihm ein Gefühl der Stärke gibt, (ich liebe und mir ist die andere Person wichtig) noch mit einer anderen Sorte von Erleben in Verbindung steht (ich kann das Warten nicht ertragen), was sich dann insgesamt in dem doppelbödigen Gefühl eines Bangens ausdrückt und ganz ohne eine Trennbarkeit in die
beiden Gefühlsanteile über uns verfügt.

(Fortsetzung 2/5)

Autor: Werner Mikus


Bildquellen: 
(1.) Paradoxer Würfel; Zeichnung von Bärbel Altwicker

(2.) I.F. Frauenberger




Das Märchen zum Nachlesen


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