Bildanalytischer Appetizer Nr. 6
Die Natur und ihr Inventar
In der christlich mittelalterlichen Zeit "las man im
Buch der Natur", wenn man sich Wissen schaffend mit ihr befasste. Es gab
eine feste Ordnung und die darin enthaltenen Dinge der Natur. Der Mensch
dieser Zeit räumte diesen Dingen nur in soweit ein eigenes Wirken und In-Sich-Zusammenhängen ein, als es sich aus der Schöpfung im Ganzen ableiten ließ.
Keineswegs billigte man den Dingen aber eine eigene Natur zu, die vielleicht nur mit neuen, gleichsam unchristlichen Mitteln zu erschließen war und vom Inhalt her dem Bild einer göttlichen Schöpfung widersprach (die Inquisition
passte schon darauf auf! Der Mittelpunkt der Schöpfung drohte ja im 17ten
Jahrhundert durch einen neuen Blick auf die Himmelsmechanik verschoben zu
werden und dem Interpretations-System der kirchlich organisierten Wissenschaft
drohte zumindest eine ungeheuere Relativierung.
Heute fragen wir uns: Wie genau ist die jeweilige Sache beschaffen, wie ist
ihr Zusammenhang, wie funktioniert sie, damit ich sie nachbilden, nachbauen kann. Unter welchen
Bedingungen entstehen bestimmte Dinge und unter welchen verschwinden sie
wieder? Darum ging es dem Menschen des christlichen Zeitalters weniger. Die
Beschaffenheit der Dinge schien festzustehen. Sie drückte den Plan Gottes aus, den man im wesentlichen zu kennen glaubte und der sich in bestimmten
universalen Gesetzen mustergültig zum Ausdruck brachte. Forschung war also eine
Art von Inventur machen in einer Schöpfung, die so groß war, dass man noch
nicht alles darin kennen konnte.
Hin zu den Dingen selbst - die Versuchung in der Neuzeit
In der Wende zur Neuzeit und mit dem Entstehen der
Naturwissenschaft, war man nun aber versucht, den Dingen selbst und ihren
inneren Zusammenhängen eine Bedeutung zu geben, mit der Konsequenz, von einem
alten Bild der Wirklichkeit wegrücken zu müssen, das von einer Wirklichkeit
erzählt, die nur auf einer einzigen, von Gott gegebenen Ordnung, aufgebaut ist.
Giordano Brunos Idee von den unendlich vielen Welten bringt die Brisanz dieser
Versuchung vielleicht am besten ins Bild: Man konnte sich im Geiste seiner
Ideen fragen, ob wir nicht vielleicht von mehreren, ganzheitlichen
Ordnungsmustern in der Welt ausgehen sollten, die gleichsam nebeneinander
existieren und dennoch in der einen unendlichen Wirklichkeit ihren Auftritt
haben, in der auch wir leben und uns Gedanken über die Dinge machen.
Die halbherzige Hinwendung zu den Dingen
Die Vitalität der Bewegung "Hin zu den Dingen"
hielt aber nicht lange vor. Eine Ersatzordnung für die alte Ordnung der Dinge
wurde schnell gefunden: Descartes Zweiteilung der Welt in die Natur des
Geistigen und die des Materialen hatte das geschafft, unter Mithilfe der
mathematischen Beschreibung der Gravitation (Newton) die ja das Zusammenhalten
von Himmels-Geschossen berechenbar machte (und auf so einem saß der Mensch nach
Verlassen des alten Denkens ja). Die Verheißung dieser neuen Ordnung war: Wir
können im Buche der Natur (egal vom wem geschrieben) weiterlesen. Wir wissen
jetzt, dass es in der Sprache der Mathematik geschrieben ist und daher dürfen
wir hoffen, eines Tages alle Zusammenhänge dieser EINEN Ordnung (aber woher
konnte man wissen dass es EINE war) gefunden zu haben.
Diejenigen, die den Impuls dennoch weiter spürten, nach
neuen Zugängen zur Wirklichkeit und ihrer möglicherweise verschiedenen Naturen
zu suchen, wurden schnell mit einem Pantheistischen Denken zusammengebracht.
Einem solchen Denken ging es dann eher darum, sich Gott ein bisschen
größer zu denken als bisher, sich ihn z.B. als einen Gott von unendlich vielen Welten vorzustellen - wobei es am Ende dann doch wieder auf
dieses göttliche EINE einer Ordnung hinauslaufen sollte (so konnte man Giordano
Bruno jedenfalls auch interpretieren).
Die Versuchung, die Dinge selbst zum Sprechen zu bringen,
ihren eigenen Hinweisen auf die Wirklichkeit zu folgen und so einen methodisch
immer besseren Zugang zu ihnen zu entwickeln, verlor sehr bald ihre Anziehungskraft angesichts der Verheißung einer über die Mathematik
erreichbaren maximalen Sicherheit im Aufschließen der Wirklichkeit.
Man wollte jetzt soviel von der materialen Natur der
Wirklichkeit (res exensa) erforschen wie eben nur möglich und glaubte sich im
methodischen Vorgehen noch nie so sicher wie jetzt, wo man doch von einer Natur
ausgehen konnte, die in der Sprache der Mathematik geschrieben und damit
prinzipiell zu entschlüsseln war. Das Mathematische wurde zentral in den Rahmen
eines Verfahrens gestellt, das wie ein Generalschlüssel für die Erschließung
aller Zusammenhänge zur Verfügung stand (grob: Operationalisieren als
Methode).
Was war aber der Preis für das Verheißungsvolle?
Zu allen Phänomenen, die in irgendeiner Weise mit der Seele, dem Denken und dem
Geist etwas zu tun hatten, konnte auf diese Weise kein Zugang gefunden werden.
Selbst so zeitnahe Denker wie Kant waren davon überzeugt, dass der menschliche
Geist, (wie er sagte) sich der wissenschaftlichen Untersuchung entziehe weil
das Denken eine Funktion der Seele sei und diesem deshalb auch keine mess- und
überprüfbaren Parameter zugeordnet werden könnten.
Die Methode war also ein Hindernis für die Erforschung
bestimmter Zusammenhänge. Die Methode musste ja nicht an den Dingen selbst erst
entwickelt werden, sondern war für den Forscher wie von außen vorgegeben,
ähnlich wie der Geist im dualistischen Weltbild in die materialen Dingen wie von außen hinein gegeben war, als etwas Fremdes, das sich nicht an der
Sache selbst erst entwickeln musste.
Ein Hin zu den Dingen durch das Experiment
Die Neuzeit begann also mit der Versuchung, den Blick
umzukehren: Statt von der Sicherheit einer göttlichen Ordnung auf die noch
unbekannten Dinge der Natur zu schauen, traute man sich jetzt vom Kleinen, das
man sich genauestens beschauen konnte, auf das Große zu schließen. Und das war
die Geburtsstunde des Experiments. Die in Geist und Materie aufteilende Ersatzordnung die ja sehr bald
gefunden war, hinderte nicht daran. Im Gegenteil, das Schließen vom Kleinen auf
das Große ließ sich mit der neuen Ordnung ganz gut verbinden. Das
wissenschaftliche Experimentieren wurde eine Erfolgsgeschichte. Es brachte
tatsächlich näher an die Welt der Dinge heran. Allerdings für einen recht hohen
Preis: Bestimmte Zusammenhänge mussten vollkommen ausgeklammert werden.
Wieso das so ist, wird deutlich, wenn wir uns anschauen, wie die Methode
aussah und weitgehend auch heute noch aussieht. Dabei geht es um eine Methode,
die das Versprechen macht, ein Generalschlüssel für die Erschließung jedweder
Zusammenhänge zu sein. Bestimmte Dinge mussten dabei für die Wissenschaft
geopfert und weil der Schlüssel dort nicht passte in die Nebenstube einer Geisteswissenschaft geschoben werden, die als eine nicht exakte Wissenschaft galt.
Immerhin entstanden im Zuge der vielen Experimente
Protoperspektiven auf eine Wirklichkeit im Ganzen - Vorformen von Perspektiven
die das Zeug dazu haben, einen neuen, eigenen Zugang zur Wirklichkeit mit
entsprechend eigenen Methoden bereitzustellen (darauf komme ich später noch
zurück).
Die generalschlüsselartige Methode als Bremse
Jede Methode will einen eigenen
Zugang zu den Dingen herstellen. Dabei müssen aber immer bestimmte Erwartungen erfüllt
werden: Die Methode soll Vorhersagen ermöglichen, und die Erkenntnisse sollen sowohl
zuverlässig als auch gut nachvollziehbar sein.
Die Wissenschaft der Neuzeit
hatte sehr schnell ein Vorgehen entwickelt, welches wie ein feststehendes und genormtes
Verfahren das wissenschaftliche Tun bestimmte. Dabei geht es um eine Methodik,
die mit dem Anspruch auftritt, in jedem Bereich wissenschaftlichen Forschens
der passende Schlüssel zu sein. Sie versteht sich also wie ein Generalschlüssel. Dreh- und Angelpunkt sind darin
das so genannte Operationalisieren und das Erfüllen einer (formallogisch)
widerspruchsfreien Form des Schließens. Wenn dieser methodische Schlüssel zur
Untersuchung einer Sache nicht passt, ging und geht man auch heute noch davon
aus, dass es sich bei der Sache nicht um einen Gegenstand der Wissenschaft
handelt (der exakten, empirischen Wissenschaft)
Die Methode funktioniert wie folgt:
(1.) Eine komplexe Frage
wird (im Rahmen einer wissenschaftlichen Bearbeitung) so lange umgeformt, bis
sie auf eine inhaltliche Frage heruntergebrochen ist, in deren Mitte etwas
Abzählbares (Messbares) steht. (2.) Von der Form her muss das Herunterbrechen
der Frage widerspruchsfrei im Sinne der formalen Logik durchgeführt werden
(Aussagenlogik). (3.) Das Abgezählte wird sodann in ein mathematisches Modell
überführt und mit einem normierenden Modell verglichen (Beispiel: die konkrete
Häufigkeitsverteilung mit der Normalverteilung = Glockenkurve). (4.) Die
Ergebnisse aus dem mathematischen Modellvergleich werden dann sehr großzügig zurückübersetzt
in die komplexe Frage, um die es in der Untersuchung ursprünglich gegangen ist.
Durch das Runterbrechen auf Aussagen, die im Kern etwas
Abzählbares enthalten, zwingen wir die Zusammenhänge der von uns untersuchten
"Natur" in einfache, wiederholbare Muster hinein. Hierbei spielen vertraute Kategorien und verschiedene gebräuchliche Metaphern eine Rolle.
In der sogenannten Metaphernanalyse z.B. geht man davon
aus, dass zuletzt alle Metaphern auf ein paar Grundmuster (Schemata) ausgerichtet sind,
die sich von der frühen Körpererfahrung des Menschen her ableiten - gemeint
sind damit z.B. das Schema des Behälters (Container), des Weges (Pfad) oder das der
Kraft. Man kann sich gut vorstellen, wie hilfreich diese Schemata für ein Operationalisieren sind. Es ist aber auch nicht schwer zu erkennen, dass auf diesem Wege, wenn auch "gefühlt unschuldig", ein kaum zu rechtfertigendes Vorgreifen auf die Inhalte und Ergebnisse stattfindet. Das Problem des Operationalisierens zeigt sich also auch dort, wo eine komplexe Beschreibung gewünscht wird (Metapheranalyse, M. Buchholz).
Provozierende Erfahrung am Gegenstand der modernen Psychologie
Seelische Prozesse sind motiviert durch Widersprüche. Freud
machte über die ganzen Jahre seines psychologisch orientieren Forscherlebens
hinweg ein einziges großes Experiment. Mit einem Verfahren, der
"Psychoanalytischen Kur" (und das war sein großes Labor), konnte er
zeigen, dass seelische Widersprüche, wenn sie nicht zugelassen sondern in
ihrer Existenz wie geleugnet behandelt wurden, zu Beeinträchtigungen mit
Krankheitswert führten. Der Beweis war folgendermaßen aufgebaut: Wenn in der psychoanalytischen Kur die seelisch wirksamen Widersprüche ernst genommen und
in dem gelebten Alltag ohne verleugnende Strategien einbezogen werden konnten,
verschwanden die Merkwürdigkeiten und die sogenannten Störungen. Bestimmte Krankheiten erwiesen
sich durch dieses Experiment als Symptom für eine nicht angemessen
einbezogene Widersprüchlichkeit der seelischen Natur: Setzte die laufende
Analyse die Widersprüche wieder in ihr angestammtes Recht zurück, verschwanden auch die Störungen.
Freud erforschte eine für die Wissenschaft bisher unbekannte
Natur, die sich natürlich nicht mit der generalschlüsselartigen Methode
erforschen ließ. Dennoch entwickelte er ein verantwortliches oder anders gesagt, ein "stimmiges" Vorgehen. Dieses kann als Vorgestalt gesehen werden für
eine neue und andere Art, wissenschaftlich mit den Dingen dieser besonderen
Natur umzugehen. Seine besondere Leistung dabei bestand darin, alles, was ihn interessierte, in komplexen,
bildhaften Zusammenhängen zu beschreiben. Das zeigt sich auch in seinen
theoretischen Schriften für die er mit dem Goethepreis ausgezeichnet wurde.
Vorschläge für eine konsequente Hinwendung zu den Dingen
Wenn wir unsre Methoden an den Sachen selbst entwickeln und
ausrichten wollen, müssen wir genau wissen was der Gegenstand unserer
Wissenschaft ist. Wollen wir uns nicht hinter einer Methode verstecken, die mit
dem Versprechen blendet, für alle Gegenstände der Wissenschaft gleichermaßen richtig zu sein,
dann geht es nur auf diese Weise: Anschauen, was die eigene Sache ist und dann
genau prüfen, was dieser Sache methodisch gerecht wird. Dabei geht es darum, eine Perspektive zu formulieren, die
den Kern des eigenen wissenschaftlichen Tuns und Interesses heraushebt.
Für die Physik würde das bedeuten, dass sie sich als
Wissenschaft von den raumzeitlichen
Zusammenhängen versteht. Auch Qualitäten wie z.B. die Wärme werden raumzeitlich
beschrieben und als solche erforscht. Die
Wärme hängt physikalisch von den raumzeitlichen Verhältnissen ab, und wird in
der Physik auch auf diese hin und nicht anders etwa beschrieben: Also geht es bei
dieser Qualität um die Bewegung der Moleküle, die an einem bestimmten Ort und in
einer bestimmten Zeit zu beobachten sind.
Für die Mathematik würde es bedeuten, dass sie sich als Wissenschaft
von den formalisierenden Zusammenhängen versteht: Eine Vierfachheit z.B.
ist für sie ein Zusammenhang formalisierender Art, in welchem die
Wirklichkeit auf die inneren Verhältnisse einer Wiederholbarkeit hin beschrieben wird (z.B. wenn es darum geht, im
Vierfachen das doppelte von einem Zweifachen zu sehen etc.)
Die Perspektive einer Wissenschaft beschreibt Zusammenhänge,
die selbst wiederum unter sich zusammenhängen und dabei Gesetzescharakter
annehmen. In der Physik kennen wir z.B. das Gesetz der Energieerhaltung, oder das der zunehmenden Entropie. In der Mathematik kennen wir z.B. das Gesetz der Gruppe, dem zufolge vier Bedingungen erfüllt
sein müssen damit bestimmte Operationen zwischen Objekten bei sich selbst bleibend stattfinden können.
Beide Methoden, die der Mathematik und die der Physik, haben
ihr Eigenes, was sich nicht in die eine
oder andere Richtung auflösen lässt. Weder ist die Mathematik die Quelle
aus der das raumzeitliche Geschehen entsteht, noch ist das Raumzeitliche
der Ort, aus dem sich die formalisierenden Zusammenhänge "ableiten" lassen. Sie stellen je eine eigene wissenschaftlich erschließbare Welt
her, welche die Existenz der anderen überformt , ohne dass die eine die wahre
und die andere nur die abgeleitete sei. Wenn wir auf die eine statt die andere Perspektive hin beschreiben, dann deshalb
weil eine der Perspektiven für das interessierende Ereignis und seinen Zusammenhang für uns die Führung haben soll.
Jede Wissenschaft, die von den Dingen her auf die Welt
schaut, hat also einen eigenen Zugang zu der ganzen Wirklichkeit. Sie schneidet
nichts ab von der Realität sondern nimmt alles und übersetzt es in ihre eigene
Perspektive. Die so begründeten Wissenschaften überlappen sich daher mit
anderen, ebenbürtigen Blicken auf die Wirklichkeit, aber keine dieser
Wissenschaften ist eingelagert in der Perspektive einer anderen.
Daher müssen die Methoden des angemessenen Umgangs innerhalb
dieser Wissenschaften auch an den Sachen selbst entwickelt werden und sollten nicht
von draußen an die Zusammenhänge herangetragen werden. Dabei entstehen in
Methode und Inhaltlichkeit parallele, eigene Welten.
Psychologie als die dritte im Bunde
In der Psychologie sehe ich eine neue Perspektive auf die
Wirklichkeit gefunden, die ebenso einen Blick auf das Ganze der Wirklichkeit
wirft. Aber nur dann wenn wir ihren Gegenstand in den erlebbaren Zusammenhängen
sehen.
Die gängige Festlegung der Psychologie auf das Erleben und
Verhalten würde den Blick auf einen endlichen Phänomenbereich begrenzen so wie es
in der Geographie, der Linguistik oder auch in der Musikwissenschaft z.B. gegeben
ist. Die erlebbaren oder bildhaften Zusammenhänge stellen dagegen einen perspektivischen Blick auf das Ganze der
Wirklichkeit dar.
Erlebbare Zusammenhänge sind immer bildhafter (gleichnishafter) Natur. Diese
Feststellung erleichtert es das perspektivisch Ganze dieser Blickrichtung besser
nachvollziehen zu können: Alles hat eine bildhafte, gleichnishafte Natur, auf
die hin wir die Wirklichkeit beschreiben können, und zwar ohne dabei etwas
auslassen zu müssen. Damit haben wir eine Perspektive in die hinein sich alles übersetzen
lässt.
Wir können feststellen, dass sich nach fast 100 Jahren
Erfahrungen unter einer Protoperspektive für diese gleichsam neue Wissenschaft,
sich eigene Gesetzlichkeiten erkennen lassen. Dabei geht es um Forschungen, die
vor Allem auf das Verhalten und Erleben ausgerichtet waren und weniger auf die bildhaften (gleichnishaften) Verhältnisse direkt. Dass es in dieser neuen Wissenschaft auch um ein eigenes
Methodenbewusstsein zu gehen hat, davon ist bisher noch nicht so viel zu hören gewesen. In der bildanalytischen Psychologie z.B. ist schon ein Anfang gemacht.
Sicherheit im eigenen, wissenschaftlichen Handeln müssen wir
wo anders finden als in dem Wissen darum, vermeintlich die wahre Methode, den
Generalschlüssel für alles gefunden zu haben. Nach Ansicht der Bildanalytischen
Psychologie geht es darum, den Stimmigkeitssinn für eine wissenschaftliche Arbeit zu
kultivieren: Stimmig muss das erklärende Bild am Ende einer Untersuchung sein
und stimmig auch die Abstimmung der Schritte untereinander, in welchen das Befragen
einer Wirklichkeit und das Modellbilden bei gleichzeitig laufender, gegenseitiger Korrektur stattfindet.
Einer so verstandenen neuen Wissenschaft und Psychologie
(oder Bildanalytik) geht es darum, erlebbare Zusammenhänge als solche zu
beschreiben, und nicht etwa als zeitlich- räumliche oder als formalisierende. Außerdem will sie Gesetze finden in ihren eigenen Zusammenhängen
(Zusammenhänge höherer Ordnung also), die nicht aus den raumzeitlichen oder
formalisierenden Grundverhältnissen etwa abzuleiten sind. (Gestaltschließung,
Verkehrung, Umstülpung oder Inversion von Verhältnissen etc.). Dabei ist klar,
dass die erlebbaren Zusammenhänge z.B. auch immer in den raumzeitlichen Verhältnissen
stattfinden und umgekehrt natürlich auch.
Die Zusammenhänge von Raum und Zeit z.B. haben dabei aber
keine erklärende Wirkung, auf die Entwicklung und auf die Voraussagbarkeit des
erlebbaren oder bildhaften Geschehens. Ein Beispiel: Jemand ärgert sein Gegenüber. Für die
Vorhersage und für ein Verstehen des Geschehens spielen die zeitlichräumlichen
Verhältnisse hier kaum eine Rolle: Nicht wie oft hintereinander jemand etwas
Böses sagt, "zählt", sondern eher, welches Selbstbild vielleicht angegriffen
wird und wie der Angriff genauer aussieht? Ist er direkt oder auf eine
besonders raffinierte Weise vorgebracht, also indirekt. Was unterstellt der
Angreifende genau und welche Bedeutung hat das für den Angegriffenen. Lässt der
Angreifer ihm eine Chance, den Angriff abzuwehren. Lässt er ihn zu Wort kommen
oder legt er sofort nach. Wie auch immer, das Raumzeitliche hat hier eine nur
sehr marginale Bedeutung für ein Verständnis des Ärgerns - wie wir es uns gut denken können.
Bildanalytik als radikale Umkehr des Blickes
(weg vom
System hin zu den Dingen)
Das "Hin zu den Dingen" und das Schauen von dem Ding aus auf das Ganze, das ist eine Forderung die von der
neuen Wissenschaft der erlebbaren Zusammenhänge besonders deutlich vertreten
wird. Das liegt daran, dass die bildhaften Zusammenhänge jeweils die Potenz in
sich tragen, Gleichnis zu werden für die ganze Wirklichkeit und dass sie selber jeweils eine mögliche Perspektive auf das Ganze sind.
Jeder bildhafte, und das meint "jeder erlebbare"
Zusammenhang trägt die Potenz in sich, selbst zum Zentrum eines Verstehens zu
werden und damit zu einer Interpretation der Dinge, eigentlich aller Dinge die
sonst noch bestehen. Nehmen wir z.B. eine Tasse (sagen wir, eine Tasse, als Gebrauchsgegenstand verstanden), dann können wir in ihr ein Gleichnis sehen,
was sich auch auf alles mögliche Andere wie eine Deutung desselben beziehen
lässt. Das gelingt, weil auch die seelische Natur einer Tasse ein Bildverstehen hat, sich also nach einem Gleichnis oder Bild versteht.
Nehmen wir das Beispiel der Tasse, dann haben wir es mit einem "kleinen, raumschaffenden Aufschub zu tun, der sich uns innerhalb eines
Übergangs, der auf Zufuhr ausgerichtet ist, anbietet. Gehen wir mit diesem Bild nun an
die Wirklichkeit im Ganzen heran, dann können wir von ihm aus auch etwas über diesen Aufsatz (oder bildanalytischen Appetizer) sagen: Er bietet die Möglichkeit, in einem Prozess, in welchem es darum geht sich eine Vorstellung vom Denken der
Bildanalytischen Psychologie zu machen, einen kleinen raumschaffenden Aufschub zu erhalten, der es erlaubt, erst einmal vorschmecken zu können, um sich in einem nachfolgenden, weiteren Zugreifen dann mit
der interessierenden Materie auseinanderzusetzen. Wir haben also die Möglichkeit, es mit dem Aufsatz so zu halten wie es der Gebrauchsgegenstand Tasse mit dem Menschen und einem Getränk zu halten
versteht. Denken wir nur an die Analogien zu der Möglichkeit, die eine Tasse bietet: ein Getränk kann auf eine annehmliche Weise zu sich genommen werden und das heißt mit einer bestimmten Kultur, nicht überstürzt
sondern portioniert und mit einem eventuellen Hinzubringen bestimmter, dem individuellen Geschmack entsprechender Zutaten (Zucker, Milch o.ä.).
Das heißt: In einer derart konsequent verstandenen
Wissenschaft der Psychologie oder Bildanalytik, werden die Dinge selbst zur Lehre.
Die Tasse z.B. sagt uns von ihrer eigenen Natur ausgehend etwas über die Bedeutung dieses Appetizers
aus, der von ihnen grade gelesen wird. Das erinnert an einen Satz von Goethe, in dem es heißt: "Die
Phänomene selbst sind die Lehre". Geht es bei Goethe aber wirklich darum? Schaut
man sich die zugrunde liegende originale Aussage von Goethe an, bemerkt man gleich, dass hier die allgegenwärtige EINE Ordnung der Natur gemeint ist mit ihren
Grundgesetzen, die sich nach Goethes Denken, überall zum Erscheinen bringt - und so auch an dem Ort des uns blau
erscheinenden Himmels von dem Goethe in seinem Beispiel spricht: „Die Bläue des
Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts
hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.“ Dieser letzte Teil des Satzes "Sie selbst sind die
Lehre" will eine Psychologie, welche die erlebbaren Zusammenhänge zum Gegenstand hat, nun wirklich ernst nehmen. Und das bedeutet: Die Dinge, wenn wir sie als Bilder und Gleichnisse verstehen, sind nicht nur
Ausdruck VON einer Ordnung (Goethe und der Pantheismus) sondern auch Formel FÜR eine
Ordnung und zwar FÜR eine je eigene Welt, die sich übers Ganze erstreckt wie ein Rahmen, welcher sich genau aus dem vorliegenden "Ding" selbst herleitet (Tassenbeispiel s.o.).
Dieses Denken finden
wir in Nietzsches Formel vom "Wille zur Macht" wieder, mit der er
sagen will, dass alle Zusammenhänge Bild fürs Ganze werden wollen, dass eben
alles den "Willen" oder das Streben dazu hat. Nietzsche bringt diesen
Gedanken in ein drastisches Bild, wenn er sagt: Gott sei tot, denn dieser habe sich totgelacht,
weil ein anderer Gott aufgestanden sei und behauptet habe, dass er der EINE und Einzige sei.
Weniger ist oft mehr - auf, dass es uns gelinge!
Die Leidenschaft, "hin zu den Dingen" lebt besonders in der Wissenschaft (und Methode) von den erlebbaren Zusammenhängen wieder auf. Sie fordert von uns die Bereitschaft, einem bestimmten Sicherheitsbedürfnis ("exakte" Wissenschaften) entgegenzutreten, mit neuen Konzepten und einem mutigen "weniger ist mehr". Dies wirklich umzusetzen ist nicht leicht. Und vielleicht ist mir der vorliegende Text, der ja eigentlich nur eine kleine bildanalytische Anregung sein sollte, aus diesem Grunde etwas in die Länge geraten. ;-)
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Inzwischen ist dieser Appetizer als Artikel mit dem Untertitel - Werbung für eine Wissenschaft von den erlebbaren Zusammenhängen - auch im folgendem Netz-Medium erschienen:
Kuno - Kulturnotizen zu Kunst Musik und Poesie - (Edition Das Labor, Verlag der Artisten)
Webadresse der Bilder von oben nach unten:
(1) http://www.piercedhearts.org/z_imagenes/priests-deacons/fr_cantalamessa_preaching.jpg
(2) https://lacan-entziffern.de/wp-content/uploads/2012/09/Fragezeichen-und-Ausrufezeichen-Psychoanalyse1.jpg
(3) Grafik von W. Mikus
(4) Foto von W. Mikus
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