Zu den Dingen selbst - die erlebbaren Zusammenhänge
Bildanalytischer Appetizer Nr. 6
Die Natur und ihr Inventar
Keineswegs billigte man den Dingen aber eine eigene Natur zu, die
vielleicht nur mit neuen, gleichsam unchristlichen Mitteln zu erschließen war
und vom Inhalt her dem Bild einer göttlichen Schöpfung widersprach (die
Inquisition passte schon darauf auf). Der Mittelpunkt der Schöpfung drohte im
17ten Jahrhundert durch einen neuen Blick auf die Himmelsmechanik verschoben zu
werden und dem Interpretations-System der kirchlich organisierten Wissenschaft
drohte eine ungeheuere Relativierung.
Heute fragen wir uns: Wie genau ist die jeweilige Sache beschaffen, wie ist ihr
Zusammenhang, wie funktioniert sie, damit ich sie nachbilden, nachbauen kann.
Unter welchen Bedingungen entstehen bestimmte Dinge und unter welchen
verschwinden sie wieder? Darum ging es dem Menschen des christlichen Zeitalters
weniger. Die Beschaffenheit der Dinge schien festzustehen. Sie drückte den Plan
Gottes aus, den man im Wesentlichen zu kennen glaubte und der sich in
bestimmten universalen Gesetzen mustergültig zum Ausdruck brachte. Forschung
war also eine Art von Inventur machen in einer Schöpfung, die so groß war, dass
man noch nicht alles darin kennen konnte.
Hin zu den Dingen selbst - die Versuchung
in der Neuzeit
In der Wende zur Neuzeit
und mit dem Entstehen der Naturwissenschaft war man versucht, den Dingen selbst
und ihren inneren Zusammenhängen eine Bedeutung zu geben, mit der Konsequenz,
von einem alten Bild der Wirklichkeit wegrücken zu müssen, das von einer
Wirklichkeit erzählt, die nur auf einer einzigen, von Gott gegebenen Ordnung,
aufgebaut ist. Giordano Brunos Idee von den unendlich vielen Welten bringt die
Brisanz dieser Versuchung vielleicht am besten ins Bild: Man konnte sich im
Geiste seiner Ideen fragen, ob wir nicht vielleicht von mehreren ganzheitlichen
Ordnungsmustern in der Welt ausgehen sollten, die gleichsam nebeneinander
existieren und dennoch in der einen unendlichen Wirklichkeit ihren Auftritt
haben, in der auch wir leben und uns Gedanken über die Dinge machen. Wie wir
wissen endete Giordano Brunos Wirken auf den Scheiterhaufen (1600).
Die halbherzige Hinwendung zu den Dingen
Die Vitalität der Bewegung "Hin zu den Dingen" hielt aber nicht lange vor. Eine Ersatzordnung für die alte Ordnung der Dinge wurde schnell gefunden: Descartes Zweiteilung der Welt in die Natur des Geistigen und die des Materialen hatte das geschafft, unter Mithilfe der mathematischen Beschreibung der Gravitation (Newton) die das Zusammenhalten von Himmels-Geschossen berechenbar machte (und auf so einem saß der Mensch nach Verlassen des alten Denkens ja). Die Verheißung dieser neuen Ordnung war: Wir können im Buche der Natur (egal vom wem geschrieben) weiterlesen. Wir wissen jetzt, dass es in der Sprache der Mathematik geschrieben ist und daher dürfen wir hoffen, eines Tages alle Zusammenhänge dieser einen Ordnung gefunden zu haben. Diejenigen, die den Impuls dennoch weiter spürten, nach neuen Zugängen zur Wirklichkeit und ihrer möglicherweise verschiedenen Naturen zu suchen, wurden schnell mit einem Pantheistischen Denken zusammengebracht. In einer solchen Auffassung ging es dann eher darum, sich Gott ein bisschen größer zu denken als bisher, sich ihn z.B. als einen Gott von unendlich vielen Welten vorzustellen - wobei es am Ende dann doch wieder auf dieses göttlich Eine hinauslaufen sollte (so konnte man Giordano Bruno jedenfalls auch interpretieren). Die Versuchung, die Dinge selbst zum Sprechen zu bringen, ihren eigenen Hinweisen auf die Wirklichkeit zu folgen und so einen methodisch immer besseren Zugang zu ihnen zu entwickeln, verlor sehr bald ihre Anziehungskraft angesichts der Verheißung einer über die Mathematik erreichbaren maximalen Sicherheit im Aufschließen der Wirklichkeit.
Man wollte jetzt soviel von der materialen Natur der Wirklichkeit (res exensa) erforschen wie eben nur möglich und glaubte sich im methodischen Vorgehen noch nie so sicher wie jetzt, wo man doch von einer Natur ausgehen konnte, die in der Sprache der Mathematik geschrieben und damit prinzipiell zu entschlüsseln war. Das Mathematische wurde zentral in den Rahmen eines Verfahrens gestellt, das wie ein Generalschlüssel für die Erschließung aller Zusammenhänge zur Verfügung stand (Operationalisieren).
Was war aber der Preis für das Verheißungsvolle?
Zu allen Phänomenen, die in irgendeiner Weise mit der Seele, dem Denken und dem Geist etwas zu tun hatten, konnte auf diese Weise kein Zugang gefunden werden. Selbst so zeitnahe Denker wie Kant waren davon überzeugt, dass der menschliche Geist, (wie er sagte) sich der wissenschaftlichen Untersuchung entziehe, weil das Denken eine Funktion der Seele sei und diesem deshalb auch keine mess- und überprüfbaren Parameter zugeordnet werden könnten. Die Methode war also ein Hindernis für die Erforschung bestimmter Zusammenhänge. Die Methode musste nicht an den Dingen selbst erst entwickelt werden, sondern war für den Forscher wie von außen vorgegeben, ähnlich wie der Geist im dualistischen Weltbild in die materialen Dinge wie von außen hinein gegeben war, als etwas Fremdes, das sich nicht an der Sache selbst erst entwickeln musste.
Ein Hin zu den Dingen durch das Experiment
Die Neuzeit begann also mit der Versuchung, den Blick umzukehren: Statt von
der Sicherheit einer göttlichen Ordnung auf die noch unbekannten Dinge der
Natur zu schauen, traute man sich jetzt vom Kleinen, das man sich genauestens
beschauen konnte, auf das Große zu schließen. Und das war die Geburtsstunde des
Experiments. Die in Geist und Materie aufteilende Ersatzordnung, die sehr bald
gefunden war, hinderte nichts daran. Im Gegenteil, das Schließen vom Kleinen auf
das Große ließ sich mit der neuen Ordnung ganz gut verbinden. Das
wissenschaftliche Experimentieren wurde eine Erfolgsgeschichte. Es brachte
tatsächlich näher an die Welt der Dinge heran. Allerdings für einen recht hohen
Preis: Bestimmte Zusammenhänge mussten vollkommen ausgeklammert werden.
Wieso das so ist wird deutlich, wenn wir uns anschauen, wie die Methode aussah und weitgehend auch heute noch aussieht. Dabei geht es um eine Methode, die das Versprechen macht, ein Generalschlüssel für die Erschließung jedweder Zusammenhänge zu sein. Bestimmte Dinge mussten dabei für die Wissenschaft geopfert und weil der Schlüssel dort nicht passte in die Nebenstube einer Geisteswissenschaft geschoben werden, die als eine nicht exakte Wissenschaft galt. Immerhin entstanden im Zuge der vielen Experimente Protoperspektiven auf eine Wirklichkeit im Ganzen - Vorformen von Perspektiven, die das Zeug dazu hatten, einen neuen, eigenen Zugang zur Wirklichkeit mit entsprechend eigenen Methoden bereitzustellen.
Die generalschlüsselartige Methode als Bremse
Jede Methode will einen eigenen Zugang zu den Dingen herstellen. Dabei müssen aber immer bestimmte Erwartungen erfüllt werden: Die Methode soll Vorhersagen ermöglichen, und die Erkenntnisse sollen sowohl zuverlässig als auch gut nachvollziehbar sein. Die Wissenschaft der Neuzeit hatte sehr schnell ein Vorgehen entwickelt, welches wie ein feststehendes und genormtes Verfahren das wissenschaftliche Tun bestimmte. Dabei geht es um eine Methodik, die mit dem Anspruch auftritt, in jedem Bereich wissenschaftlichen Forschens der passende Schlüssel zu sein. Sie versteht sich also wie ein Generalschlüssel. Dreh- und Angelpunkt ist darin das Operationalisieren und das Erfüllen einer (formallogisch) widerspruchsfreien Form des Schließens. Wenn dieser methodische Schlüssel zur Untersuchung einer Sache nicht passt, ging und geht man auch heute noch davon aus, dass es sich bei der Sache nicht um einen Gegenstand der Wissenschaft handelt (der exakten, empirischen Wissenschaft).
Die Methode funktioniert wie folgt:
(1.) Eine komplexe Frage wird (im Rahmen einer wissenschaftlichen
Bearbeitung) so lange umgeformt, bis sie auf eine inhaltliche Frage
heruntergebrochen ist, in deren Mitte etwas Abzählbares (Messbares) steht. (2.)
Von der Form her muss das Herunterbrechen der Frage widerspruchsfrei im Sinne
der formalen Logik durchgeführt werden (Aussagenlogik). (3.) Das Abgezählte
wird sodann in ein mathematisches Modell überführt und mit einem normierenden
Modell verglichen (Beispiel: die konkrete Häufigkeitsverteilung mit der
Normalverteilung = Glockenkurve). (4.) Die Ergebnisse aus dem
mathematischen Modellvergleich werden dann sehr großzügig zurückübersetzt in
die komplexe Frage, um die es in der Untersuchung ursprünglich gegangen ist.
Durch das Runterbrechen auf Aussagen, die im Kern etwas Abzählbares enthalten, zwingen wir die Zusammenhänge der von uns untersuchten "Natur" in einfache, wiederholbare Muster hinein. Hierbei spielen vertraute Kategorien und verschiedene gebräuchliche Metaphern eine Rolle. In der Metaphernanalyse (M. Buchholz) geht man z.B. davon aus, dass zuletzt alle Metaphern auf ein paar Grundmuster (Schemata) ausgerichtet sind, die sich von der frühen Körpererfahrung des Menschen her ableiten - z.B. das Schema des Behälters (Container), des Weges (Pfad) oder das der Kraft. Man kann sich gut vorstellen, wie hilfreich diese Schemata für ein Operationalisieren sind. Es ist aber auch nicht schwer zu erkennen, dass auf diesem Wege, wenn auch "gefühlt unschuldig", ein kaum zu rechtfertigendes Vorgreifen auf die Inhalte und Ergebnisse stattfindet. Das Problem des Operationalisierens zeigt sich also auch dort, wo eine komplexe Beschreibung gewünscht wird.
Provozierende Erfahrung am Gegenstand der
modernen Psychologie
Seelische Prozesse sind motiviert durch Widersprüche. Freud machte über die
ganzen Jahre seines psychologisch orientierten Forscherlebens hinweg ein
einziges großes Experiment. Mit einem Verfahren, der "Psychoanalytischen
Kur" (und das war sein großes Labor), konnte er zeigen, dass seelische
Widersprüche, wenn sie nicht zugelassen, sondern in ihrer Existenz wie
geleugnet behandelt wurden, zu Beeinträchtigungen mit Krankheitswert führten.
Der Beweis war folgendermaßen aufgebaut: Wenn in der psychoanalytischen Kur die
seelisch wirksamen Widersprüche ernst genommen und in dem gelebten Alltag ohne
verleugnende Strategien einbezogen werden konnten, verschwanden die
Merkwürdigkeiten und die sogenannten Störungen. Bestimmte Krankheiten erwiesen
sich durch dieses Experiment als Symptom für eine nicht angemessen einbezogene
Widersprüchlichkeit der seelischen Natur: Setzte die laufende Analyse die
Widersprüche wieder in ihr angestammtes Recht zurück, verschwanden auch die
Störungen.
Freud erforschte eine
für die Wissenschaft bisher unbekannte Natur, die sich nicht mit der
generalschlüsselartigen Methode erforschen ließ. Dennoch entwickelte er ein
verantwortliches oder anders gesagt, ein "stimmiges" Vorgehen. Dieses
kann als Vorgestalt gesehen werden für eine neue und andere Art,
wissenschaftlich mit den Dingen dieser besonderen Natur umzugehen. Seine
besondere Leistung dabei bestand darin, alles, was ihn interessierte, in
komplexen, bildhaften Zusammenhängen zu beschreiben. Das zeigt sich auch in
seinen theoretischen Schriften, für die er mit dem Goethepreis ausgezeichnet
wurde.
Vorschläge für eine konsequente Hinwendung
zu den Dingen
Wenn wir unsere Methoden an den Sachen selbst entwickeln und ausrichten wollen, müssen wir genau wissen, was der Gegenstand unserer Wissenschaft ist. Wollen wir uns nicht hinter einer Methode verstecken, die mit dem Versprechen blendet, für alle Gegenstände der Wissenschaft gleichermaßen richtig zu sein, dann geht es nur auf diese Weise: Anschauen, was die eigene Sache ist und dann genau prüfen, was dieser Sache methodisch gerecht wird. Dabei geht es darum, eine Perspektive zu formulieren, die den Kern des eigenen wissenschaftlichen Tuns und Interesses heraushebt.
Für die Physik würde das
bedeuten, dass sie sich als Wissenschaft von den raumzeitlichen
Zusammenhängen versteht. Auch Qualitäten wie z.B. die Wärme werden raumzeitlich
beschrieben und als solche erforscht. Die Wärme hängt physikalisch von den
raumzeitlichen Verhältnissen ab und wird in der Physik auch auf diese hin und
nicht anders etwa beschrieben: Also geht es bei dieser Qualität um die Bewegung
der Moleküle, die an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Zeit zu
beobachten sind.
Für die Mathematik würde es bedeuten, dass sie sich als Wissenschaft von
den formalisierenden Zusammenhängen versteht: Das Vierfache z.B. ist für sie
ein Zusammenhang formalisierender Art, in welchem die Wirklichkeit auf die
inneren Verhältnisse einer Wiederholbarkeit hin beschrieben wird (z.B. wenn es
darum geht, im Vierfachen das doppelte von einem Zweifachen zu sehen etc.).
Die Perspektive einer Wissenschaft beschreibt Zusammenhänge, die selbst
wiederum unter sich zusammenhängen und dabei Gesetzescharakter annehmen. In der
Physik kennen wir z.B. das Gesetz der Energieerhaltung oder das der zunehmenden
Entropie. In der Mathematik kennen wir z.B. das Gesetz der Gruppe, dem zufolge
vier Bedingungen erfüllt sein müssen, damit bestimmte Operationen zwischen
Objekten bei sich selbst bleibend stattfinden können. Beide Methoden, die der Mathematik und die der Physik, haben ihr Eigenes,
was sich nicht in die eine oder andere Richtung auflösen lässt. Weder ist die
Mathematik die Quelle, aus der das raumzeitliche Geschehen entsteht, noch ist
das Raumzeitliche der Ort, aus dem sich die formalisierenden Zusammenhänge
"ableiten" lassen. Sie stellen je eine eigene wissenschaftlich
erschließbare Welt her, welche die Existenz der anderen überformt, ohne dass
die eine die wahre und die andere nur die abgeleitete sei. Wenn wir auf die
eine statt die andere Perspektive hin beschreiben, dann deshalb, weil eine der
Perspektiven für das interessierende Ereignis und seinen Zusammenhang die
Führung haben soll. Jede Wissenschaft, die wirklich von den Dingen her auf die Welt schaut, muss einen eigenen Zugang zu der ganzen Wirklichkeit besitzen. So schneidet sie nichts ab von
der Realität, sondern nimmt alles und übersetzt es in ihre eigene Perspektive.
Die sich so verstehenden Wissenschaften überlappen sich daher mit ebenbürtigen anderen Blicken auf die Wirklichkeit, aber keine dieser Wissenschaften ist etwa eingelagert in die Perspektive einer anderen. Daher müssen die Methoden eines angemessenen Umgangs innerhalb dieser
Wissenschaften auch an den Sachen selbst entwickelt werden und sollten nicht
von draußen an die Zusammenhänge herangetragen werden. Dabei entstehen in
Methode und Inhaltlichkeit parallele, eigene Welten.
Psychologie als die dritte im Bunde
In der Psychologie ist eine neue Perspektive auf die Wirklichkeit gefunden, die ebenso einen Blick auf das Ganze wirft. Aber nur dann, wenn wir ihren Gegenstand in den erlebbaren Zusammenhängen sehen. Die gängige Festlegung der Psychologie auf das Erleben und Verhalten würde den Blick auf einen endlichen Phänomenbereich begrenzen so wie es in der Geographie, der Linguistik oder auch in der Musikwissenschaft z.B. gegeben ist. Die erlebbaren oder bildhaften Zusammenhänge stellen dagegen einen perspektivischen Blick auf das Ganze der Wirklichkeit dar. Erlebbare Zusammenhänge sind immer bildhafter (gleichnishafter) Natur. Diese Feststellung erleichtert es, das perspektivisch Ganze dieser Blickrichtung besser nachvollziehen zu können: Alles hat eine bildhafte, gleichnishafte Natur, auf die hin wir die Wirklichkeit beschreiben können, und zwar ohne dabei etwas auslassen zu müssen. Damit haben wir eine Perspektive, in die hinein sich alles übersetzen lässt.
Wir können feststellen, dass sich nach fast 100 Jahren Erfahrungen unter einer Protoperspektive für diese gleichsam neue Wissenschaft, eigene Gesetzlichkeiten erkennen lassen. Dabei geht es um Forschungen, die vor allem auf das Verhalten und Erleben ausgerichtet waren und weniger auf die bildhaften (gleichnishaften) Verhältnisse direkt. Dass es in dieser neuen Wissenschaft auch um ein eigenes Methodenbewusstsein zu gehen hat, davon ist bisher noch nicht so viel zu hören gewesen. In der bildanalytischen Psychologie z.B. ist ein Anfang gemacht.
Sicherheit im eigenen wissenschaftlichen Handeln müssen wir wo anders
finden als in dem Wissen darum, vermeintlich die wahre Methode, den
Generalschlüssel für alles gefunden zu haben. Nach Ansicht der Bildanalytischen
Psychologie geht es darum, den Stimmigkeitssinn für eine wissenschaftliche
Arbeit zu kultivieren: Stimmig muss das erklärende Bild am Ende einer
Untersuchung sein und stimmig auch die Abstimmung der Schritte untereinander,
in welchen das Befragen einer Wirklichkeit und das Modellbilden bei
gleichzeitig laufender, gegenseitiger Korrektur stattfindet.
Einer so verstandenen neuen Wissenschaft und Psychologie geht es darum,
erlebbare Zusammenhänge als solche zu beschreiben, und nicht etwa als zeitlich-
räumliche oder als formalisierende. Außerdem will sie Gesetze finden in ihren
eigenen Zusammenhängen (Zusammenhänge höherer Ordnung also), die nicht aus den
raumzeitlichen oder formalisierenden Grundverhältnissen etwa abzuleiten sind.
(Gestaltschließung, Verkehrung, Umstülpung oder Inversion von Verhältnissen
etc.). Dabei ist klar, dass die erlebbaren Zusammenhänge auch immer in den
raumzeitlichen Verhältnissen stattfinden und umgekehrt natürlich auch.
Das "Hin zu den Dingen" und das Schauen von dem Ding aus auf das
Ganze ist eine Forderung die von der neuen Wissenschaft der erlebbaren
Zusammenhänge besonders deutlich vertreten wird. Das liegt daran, dass die
bildhaften Zusammenhänge jeweils die Potenz in sich tragen, Gleichnis zu werden
für die ganze Wirklichkeit und dass sie selber jeweils eine mögliche
Perspektive auf das Ganze sind.
Jeder bildhafte - und das meint jeder erlebbare Zusammenhang - trägt die
Potenz in sich, selbst zum Zentrum eines Verstehens zu werden und damit zu
einer Interpretation der Dinge, eigentlich aller Dinge die, sonst noch
bestehen. Nehmen wir z.B. eine Tasse (sagen wir, eine Tasse, als
Gebrauchsgegenstand verstanden), dann können wir in ihr ein Gleichnis sehen,
was sich auch auf alles möglich Andere wie eine Deutung desselben beziehen
lässt. Das gelingt, weil auch die seelische Natur einer Tasse ein Bildverstehen
hat, sich also nach einem Gleichnis oder Bild versteht.
Beispiel Tasse: Wir haben es hier mit einem "kleinen, raumschaffenden Aufschub zu
tun, der sich uns innerhalb eines auf Zufuhr ausgerichteten Übergangs anbietet.
Gehen wir mit diesem Bild nun an die Wirklichkeit im Ganzen heran, können wir z.B.
auch die Lektüre dieses Textes von diesem Gleichnis aus verstehen. Der vorliegende
Text bietet dem Leser, der einen Zugang zu einer Bildanalytischen Psychologie gewinnen
will, die Möglichkeit, diesem Ziel in einem Prozess nachzukommen, der dem Bild
eines raumschaffenden Aufschubs folgt und es erlaubt, erst einmal das Angebotene
gleichsam vorzuschmecken, um sich dann vielleicht mit einem nachfolgenden,
weiteren Zugreifen der interessierenden Materie zuzuwenden. Wir haben also die
Möglichkeit, es mit dem hier zu Lesenden so zu halten wie es der Gebrauchsgegenstand
Tasse mit dem Menschen und einem Getränk zu halten versteht. Denken wir nur an
die Analogien zu der Möglichkeit, die eine Tasse bietet: ein Getränk kann auf
eine annehmliche Weise zu sich genommen werden und das heißt mit einer
bestimmten Kultur, nicht überstürzt, sondern portioniert und mit einem
eventuellen Hinzubringen bestimmter, dem individuellen Geschmack entsprechender
Zutaten (Zucker, Milch o.ä.).
Das heißt: In einer
derart konsequent verstandenen Wissenschaft der Psychologie oder Bildanalytik
werden die Dinge selbst zur Lehre. Die Tasse z.B. sagt uns von ihrer eigenen
Natur ausgehend etwas über die Bedeutung dieses vorliegenden Textes aus, der von
Ihnen gerade gelesen wird. Das erinnert an einen Satz von Goethe, in dem es
heißt: "Die Phänomene selbst sind die Lehre". Geht es bei Goethe aber
wirklich darum? Schaut man sich die zugrundeliegende originale Aussage von
Goethe an, bemerkt man gleich, dass hier die allgegenwärtige eine Ordnung der
Natur gemeint ist mit ihren Grundgesetzen, die sich nach Goethes Denken,
überall zum Erscheinen bringt - und so auch an dem Ort des uns blau
erscheinenden Himmels, von dem Goethe in seinem Beispiel spricht: „Die Bläue
des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts
hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.“ Dieser letzte Teil des
Satzes "Sie selbst sind die Lehre" will eine Psychologie, welche die
erlebbaren Zusammenhänge zum Gegenstand hat, nun wirklich ernst nehmen. Und das
bedeutet: Die Dinge, wenn wir sie als Bilder und Gleichnisse verstehen, sind
nicht nur Ausdruck "von" einer Ordnung (Goethe und der Pantheismus) sondern auch
Formel "für" eine Ordnung und zwar für eine je eigene Welt, die sich übers Ganze
erstreckt wie ein Rahmen, welcher sich genau aus dem vorliegenden "Ding"
selbst herleitet (Tassenbeispiel s.o.).
Dieses Denken finden wir
in Nietzsches Formel vom "Wille zur Macht" wieder, mit der er sagen
will, dass alle Zusammenhänge Bild fürs Ganze werden wollen, dass eben alles
den "Willen" oder das Streben dazu hat. Nietzsche bringt diesen
Gedanken in ein drastisches Bild, wenn er sagt: Gott sei tot, denn dieser habe
sich totgelacht, weil ein anderer Gott aufgestanden sei und behauptet habe,
dass er der Eine und Einzige sei.
Weniger ist oft mehr - auf, dass es uns gelinge!
Die Leidenschaft,
"hin zu den Dingen", lebt besonders in der Wissenschaft (und Methode)
von den erlebbaren Zusammenhängen wieder auf. Sie fordert von uns die
Bereitschaft, einem bestimmten Sicherheitsbedürfnis (exakte Wissenschaften)
entgegenzutreten, mit neuen Konzepten und einem mutigen "weniger ist
mehr". Dies wirklich umzusetzen ist nicht leicht.
Inzwischen ist dieser Appetizer als Artikel mit dem Untertitel - Werbung für eine Wissenschaft von den erlebbaren Zusammenhängen - auch im folgendem Netz-Medium erschienen:
Kuno - Kulturnotizen zu Kunst Musik und Poesie - (Edition Das Labor, Verlag der Artisten)
Webadresse der Bilder von oben nach unten:
(1) http://www.piercedhearts.org/z_imagenes/priests-deacons/fr_cantalamessa_preaching.jpg
(2) https://lacan-entziffern.de/wp-content/uploads/2012/09/Fragezeichen-und-Ausrufezeichen-Psychoanalyse1.jpg
(3) Grafik von W. Mikus
(4) Foto von W. Mikus
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