Rache am Leben
- Parabel vom selbstgemachten Leiden -
Bildanalytischer Appetizer Nr. 5
Ich bin Beobachter einer Diskussion, in welcher sich ein Psychotherapeut und ein Hilfesuchender gegenüber stehen. Der Psychotherapeut ist umringt von Kollegen, bei denen er ein gewisses Ansehen hat. Hinter dem Kranken, in einigen Metern Abstand, sehe ich eine Schar von interessierten Anderen, offensichtlich ebenfalls Hilfesuchenden, die von weitem vorsichtig aber ebenso neugierig an der Begegnung teilhaben wollen.
Der Psychotherapeut und sein Gegenüber sprechen dabei ein wenig übertrieben in Metaphern, also in manchmal etwas blumigen Umschreibungen, aber ansonsten kommt es zu einem hochinteressanten Gespräch über das Wesen seelischer Beinträchtigungen und wie man grundsätzlich zu ihnen stehen soll. Als ich dann aber plötzlich aufwache, habe ich einen
Originaltext von F. Nietzsche
aus dem Zarathustra in der Hand (Also sprach Zarathustra; Zweiter Teil; von der Erlösung).
Ich war also bei meiner Lektüre kurz eingeschlafen. Und beim Hineinfallen in den Schlaf... hatte ich offenbar ein paar Weglassungen und winzige Einfügungen vorgenommen (hier durch eckige Klammern markiert) und außerdem die Hauptfigur Zarathustra durch einen Psychotherapeuten und den "Bucklichten" durch einen Kranken ersetzt.
Und Folgendes habe ich gelesen:
(Originaltext aus dem Zarathustra s.o.):
"Siehe nur, mein lieber Psychotherapeut:
Auch das Volk lernt von dir und gewinnt Glauben an deiner Lehre:
aber dass es ganz dir glauben soll, dazu bedarf es noch Eines -
du musst erst noch uns [Kranke] überreden!
Hier hast du nun eine schöne Auswahl und wahrlich,
eine Gelegenheit mit mehr als Einem Schopfe!
Blinde kannst du heilen und Lahme laufen machen;
und dem, der zuviel hinter sich hat, könntest du wohl auch
ein wenig abnehmen: - das, meine ich, wäre die rechte Art,
die Krüppel an [die Psychologie] glauben zu machen!"
[Und mit einem tiefen Seufzer - zugleich aber auch etwas
verschmitzt in die Runde der anwesenden Kollegen schauend -
hob der so Angesprochene an, zu antworten]:
Das ist mir aber das Geringste, seit ich unter Menschen bin,
dass ich sehe: "Diesem fehlt ein Auge und jenem ein Ohr und
einem Dritten das Bein, und andre gibt es, die verloren
die Zunge oder die Nase oder den Kopf."
Ich sehe und sah Schlimmeres und mancherlei so Abscheuliches,
dass ich nicht von Jeglichem reden und von Einigem nicht einmal
schweigen möchte: nämlich
Menschen, denen es an Allem fehlt, außer dass sie Eins zuviel haben
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heiße ich Solche. Und [manchmal] da traute ich meinen Augen nicht und sah hin, und wieder hin, und sagte endlich:
"das ist ein Ohr! Ein Ohr, so groß wie ein Mensch!" Ich sah noch besser hin: und wirklich, unter dem Ohre bewegte sich noch etwas, das zum Erbarmen klein und ärmlich und schmächtig war. Und wahrhaftig, das ungeheure Ohr saß auf einem kleinen dünnen Stiele, - der Stiel aber war ein Mensch! Wer ein Glas vor das Auge nahm, konnte sogar noch ein kleines neidisches Gesichtchen erkennen; auch, dass ein gedunsenes Seelchen am Stiele baumelte.
Das Volk sagte mir aber, das
große Ohr sei nicht nur ein Mensch, sondern ein großer Mensch, ein Genie.
Aber ich glaubte dem Volke niemals, wenn es von großen Menschen redete - und behielt meinen Glauben bei, dass es ein
umgekehrter Krüppel sei, der an Allem zu wenig und an Einem zu viel habe."
[...] [Und sich jetzt mehr an seine Kollegen richtend]:
Wie ertrüge ich es, Therapeut zu sein, wenn der Therapeut nicht auch Dichter und Rätselrater und der Erlöser des Zufalls wäre! [Denn] das ist all mein Dichten und Trachten, dass ich in Eins dichte und zusammentrage was Bruchstück ist und Rätsel und grauser Zufall.
D[as] Vergangene[...] zu erlösen und alles "Es war"
umzuschaffen in ein "So wollte ich es!"
- das hieße mir erst Erlösung!
"Es war": [so] heißt des Willens Zähneknirschen und einsamste Trübsal.
Ohnmächtig gegen Das, was getan ist -
ist er allem Vergangenen ein Böser Zuschauer.
Nicht zurück kann der Wille wollen;
dass er die Zeit nicht brechen kann und der Zeit Begierde, -
das ist des Willens einsamste Trübsal.
Dass die Zeit nicht zurückläuft,
das ist sein Ingrimm;
"Das, was war" - so heißt der Stein, den er nicht wälzen kann.
Und so wälzt er Steine aus Ingrimm und Unmut und übt Rache an dem,
was nicht gleich ihm Grimm und Unmut fühlt.
Also wurde der Wille, ein Wehetäter: und an Allem, was leiden kann, nimmt er Rache dafür, dass er nicht zurück kann.
Dies, ja dies allein ist Rache selber:
des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr "Es war."
Der Geist der Rache: meine Freunde, das war bisher der Menschen bestes Nachdenken; und wo Leid war, da sollten [wir auch] immer Strafe finden. "Strafe" nämlich, so heißt sich die Rache selber: mit einem Lügenwort heuchelt sie sich ein gutes Gewissen. Keine Tat kann vernichtet werden: wie könnte sie durch die Strafe ungetan werden! [...]
Alles "Es war" ist ein Bruchstück, ein Rätsel, ein grauser Zufall - bis
der SCHAFFENDE Wille dazu sagt: aber so wollte ich es!"
Bis der schaffende Wille dazu sagt: "Aber so will ich es!
So werde ich's wollen!" Aber sprach er schon so? [...]
Wurde der Wille sich selber schon Erlöser, Erlöser und Freudebringer? Verlernte er den Geist der Rache und alles Zähneknirschen? [...]
Aber nach einer kleinen Weile
lachte der Psychotherapeut schon wieder und sagte begütigt:
"Es ist schwer, mit Menschen zu leben, weil Schweigen
so schwer ist. Sonderlich für einen Geschwätzigen." - [...]"
Anmerkung zum Schluss:
Dass Nietzsche den eigenen Heil- und Rettungs-Versuch auf die Schippe nimmt, nämlich den Menschen mal schnell durch ein Schreckbild (umgekehrter Krüppel) von seinen Fehlern befreien zu wollen, rundet seinen "Vortrag" auf stimmige Weise ab: lässt er doch Zarathustra zum Schluss sagen, wie schwer ihm das oftmals angesagtere Schweigen falle und dass er sich für einen Geschwätzigen hält.
Mit meiner Rahmung des Kapitels, habe ich mich übrigens in ein ähnliches Problem manövriert: Ich hatte ZARATHUSTRA eigentlich durch einen ENTWICKLKUNGS- und nicht durch einen PSYCHOtherapeuten ersetzen wollen. Doch in meiner Rahmengeschichte hielt ich es damit, diesen kleinen, mir aber wichtigen Unterschied, vor meinem Leser zu verschweigen - jedenfalls bis zu dieser Aussage hier. Und so grüße ich jetzt als ein ebenfalls Geschwätziger.
Autor: Werner Mikus
Auf der Seite des Fachverbandes Entwicklungstherapie ist dieses Gleichnis mit der von mir durchgeführten kleinen Abwandlung auf das Problem der Therapie hin ebenfalls lesbar.
(per Klick hier zu lesen)
Adressen zu den Abbildungen:
(1.) http://iloboyou.com/wp-content/uploads/2013/09/ChoiXooAng-1.jpg
(2.) http://fc01.deviantart.net/fs45/i/2009/084/7/5/Sisyphus_painting_by_humblestudent.jpg
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