Beispiel:
Hier streiten sich offenbar zwei Menschen und es
sieht so aus, als wollten sie sich gleich gegenseitig an die Gurgel gehen.
Was ist aber jetzt das Seelische daran? Für die bildanalytische Psychologie
ist das Seelische dieser Situation genau das, was uns in der Fassung dieses
Wortbildes entgegentritt. Die bildhafte Beschreibung "als wollten sie
sich gleich an die Gurgel gehen" steht als ein Gleichnis für die Art und
Weise, in der beide miteinander umgehen. Es beschreibt, wie sich das
beobachtbare Geschehen verstehen läßt, oder bestimmter ausgedrückt: nach
welchem Bild "es sich versteht".
Die besondere
Situation in diesem Streit hat also ein ihr eigenes "Bildverstehen"
und damit - nach unserem psychologischem Verständnis - auch eine ihr eigene
Psyche und Psychodynamik, was sich an der Fortsetzung eines solchen Streites
auch bestimmt gut zeigen ließe.
In der Tiefenpsychologie und Psychotherapie kommt den Bildern und
Gleichnissen natürlich schon immer eine ganz besondere Bedeutung zu: Man
spricht hier z.B. von der Bildersprache des Seelischen. Für eine
bildanalytische Psychologie sind Gleichnisse und Bilder aber NICHT nur bloße
Darstellungsmittel oder Medien - wie es das Wort "Bildersprache" ja
nahelegt.
Sie sind vielmehr das Psychische bzw. die Seele der jeweiligen Sache selbst.
Hierin unterscheidet sich das bildanalytische Denken von den anderen im
weiten Sinne tiefenpsychologischen Schulen.
Das Bild oder das Gleichnis ist für uns das, was die
jeweiligen Gegebenheiten zusammenhält. Ein Bild, ein bestimmendes Gleichnis,
ist für uns nicht der Ausdruck einer irgendwo versteckten Seele, sondern die
Seele der jeweiligen Zusammenhänge selbst. Die Bilder sind es , die aus den
Zusammenhängen ein "in sich verstehbares Ganzes" machen. Für uns
ist das Seelische nicht gleichzusetzen mit dem, was wir Erleben und Verhalten
nennen, auch nicht mit dem, was wir alles unter einer Persönlichkeit
verstehen. Psychisches geht darüber hinaus: Alle Prozesse, Beziehungen und
Dinge nämlich, soweit sie uns bildhaft begegnen, sind von seelischer Natur.
Seelisches verstehen wir auch nicht als etwas von
oben nach unten Abgeleitetes, als die jeweilige Äußerung einer über allem
stehenden Charakter- oder Persönlichkeitsstruktur etwa. Wir meinen mit dem
Psychischen vielmehr eine sich immer wieder neu einrichtende Wirklichkeit mit
wechselnder Mitte, eine Wirklichkeit, die eben nicht ein einfaches und festes
Zuhause hat.
Natürlich bietet sich uns im Erleben und Verhalten
und in allem, was wir mit Persönlichkeit und Entwicklung verbinden, ein
besonders gutes Feld, Psychisches zu studieren. Wir können aber das Seelische
auch in ganz anderen Zusammenhängen finden, so z.B. in Prozessen, die quer
durch Dinge und Menschen hindurchgehen, also z.B. auch in einem
Vortragsgeschehen.
In einem Vortrag geht es nicht hauptsächlich um eine
Person und auch nicht schwerpunktmäßig um ein bestimmtes Verhalten und
Erleben. Die Entwicklung eines Vortrags scheint sich in ganz anderer Weise zu
verstehen, als es uns die vertrauten Einteilungen in Zuhörende und
Vortragenden z.B. oder in textliche und sprachliche Dinge erst mal nahelegen.
Was ist z.B., wenn der rote Faden in einer
Vortragsentwicklung verlorengeht? Das "Verlorengehen des roten
Fadens" ist zweifellos ein Vorgang bildhafter Natur - in unserem Sinne
also etwas Seelisches. Kennzeichnend für eine bildanalytische Psychologie ist
es nun, in einem solchen Falle zunächst einmal diesem Wortbild zu folgen und
davon auszugehen, daß es der VORTRAG ist, der den roten Faden verliert und
nicht etwa - wie wir vielleicht gerne schlußfolgern möchten - der Redner.
Das Vortragsgeschehen als ein Ganzes ist es, um
dessen Schicksal und Verlaufsgesetz es geht: Der Vortrag als ein bildlicher
Prozeß, der verschiedene Menschen und Anliegen, Erwartungen, sachliche
Gegebenheiten, Atmosphärisches und vieles vieles mehr in bestimmter Weise
miteinander zu verbinden versteht.
Derjenige, der die Rede hält oder auch der Zuhörer
etwa merkt das Verlorengehen des roten Fadens möglicherweise gar nicht oder
stellt es vielleicht erst viel später fest. Und trotzdem kann dieses Bild
durchgehend für den Ablauf der Rede wirksam sein und sich möglicherweise in
ganz anderen Dingen als dem naheliegenden Unruhigwerden der Zuhörer oder dem
"Ins Schwimmen Kommen" des Vortragenden zum Ausdruck bringen; so z.B.
in einem überbetont freundlichen Eingehen des Redners auf eine technische
Frage aus dem Publikum.
Der Vortrag zeigt auf diese Weise auch eine Seele,
weil er einem Bild folgt. Das heißt: die Entwicklung des Vortrags folgt einem
EIGENEN Gesetz und ihr Spielraum ergibt sich aus den besonderen Zwängen und
Freiheiten, die durch das spezifische Bild bestimmt sind.
Ich kann mir vorstellen, daß es für manch einen jetzt
schwierig wird, diesem Gedankengang zu folgen. Es ist nämlich schon etwas
ungewöhnlich, so zu denken. Und aus diesem Grunde werde ich die Form des
Vortrags ab hier auch ein bißchen abwandeln. Wundern Sie sich also nicht,
wenn ich für die Dauer einer Viertelstunde jetzt nur noch über ein einziges
Beispiel reden werde. Und hierzu habe ich einen bestimmten Gegenstand als
Beispiel gewählt: Die Tasse.
Wir legen hierzu nur kurz fest, daß es uns um die
Tasse als Haushalts- und Gebrauchsgegenstand geht. Das heißt, sie soll uns
hier nicht so sehr als Sammelgegenstand oder Reiseandenken, auch nicht als
Zeugnis der Kulturgeschichte interessieren. Nach unserer Auffassung gibt es
das sogenannte Ding-an-sich ja nicht. Und also gibt es auch die Tasse nicht,
ohne daß sie uns entweder in der einen oder anderen Perspektive
entgegentritt.
Auch eine anscheinend so simple Sache wie die Tasse,
also eine Tee- oder Kaffeetasse z.B., hat ein Bildverstehen. Und das heißt
jetzt nicht nur, daß sie ein bestimmtes und typisches Erscheinungsbild hat. Nein!
Wenn wir von der Tasse als einem Gebrauchsgegenstand reden, dann meinen wir
etwas Umfänglicheres, etwas, das sich nicht nur auf das Äußere dieses
Gegenstands bezieht.
Ich stelle nun die These auf, daß die Tasse für uns
etwas Besonderes leistet. Und wie sieht das nun aus? Da ist also zunächst einmal eine Kanne mit dem heißen
oder warmen Getränk darin. Wollten wir jetzt ohne Hilfe der Tassen davon
trinken, haben wir uns zunächst einmal auf eine Reihe von Einschränkungen
einzulassen:
Ohne Tassen müssten wir an die Kanne jetzt direkt
heran. Das hieße aber, wir könnten nicht aus diesem Vorrat so ohne weiteres
trinken - wenn zur gleichen Zeit das noch ein anderer will. Wir müssten also
vielleicht erst mal warten, bis der andere die Kanne freigibt. Außerdem
müssten wir mit dem sperrigen Behälter ganz besonders sorgsam umgehen, sonst
könnte schnell ein Missgeschick geschehen.
Wir müssten uns in unserem Trinkstil auch ganz diesem
Vorratsbehälter und seiner besonderen Form anpassen. Vielleicht kommen wir an
das warme Gut ja nur in ganz kleinen Schlückchen oder umgekehrt auch nur in
größeren und wenig kontrollierbaren "Schüttungen" heran. Vielleicht
verbrennen wir uns auch die Finger an der Kanne, weil wir sie irgendwo
anfassen müssen, wo sie zum Anfassen nicht so gut geeignet ist. Wir müßten es
uns auch versagen, den Geschmack des Getränkes individuell noch etwas
abzuwandeln, wenn ein anderer, der aus der Kanne mittrinkt, es anders haben
will - und auch dann, wenn wir allein aus der Kanne trinken und wir es uns
mittendrin anders überlegen und das Getränk nicht mehr so süß wie bisher
haben wollen.
Wir sehen, die
Tasse bietet uns viele Vorteile, die wir bei einem "Direktanschluß"
an den Vorratsbehälter nicht hätten:
Wir können in gut kontrollierten und uns selbst genehmen Schlucken das
Getränk zu uns nehmen. Wir können es in der Temperatur gut kontrollieren, vom
Rande nippend trinken, das Ganze an der verhältnismäßig großen Oberfläche gut
abkühlen lassen.
Wir können unseren Genuß in der Form persönlich
variieren, das Getränk in vollen Zügen genießen oder auch in feinen kleinen
nippenden Schlucken. Wir können auch unseren Lippen eine besondere Wohltat
bieten und uns obendrein das Gefühl verschaffen, etwas ganz für uns allein
und persönlich zu haben, so wie einen kleinen Schatz, der nur für uns allein
da ist. Das zeigt uns dann die eigene Tasse an, die vielleicht sogar den
eigenen Namen trägt und mit der wir vielleicht auch eine ganz persönliche
Geschichte verbinden.
Interessanterweise erinnert das alles auch an sehr
frühe Verhältnisse, die wir alle kennen, also an die Ernährung durch die
warme Zufuhr aus der Brust der Mutter oder aus der Nuckelflasche. Lassen wir
diesen Vergleich einmal zu, dann sehen wir einigermaßen verblüfft, daß wir
durch den Gebrauch von Tassen nicht einer alten Glückseligkeit
hinterherlaufen und diese uns ersatzweise wieder herzustellen suchen.
Nein, wir sehen eher, wie der Mensch mit diesen
Tassen eine uns viel besser erscheinende Form der Mutterbrust-Versorgung entwickelt
hat.
Der Mensch scheint mit den Tassen das, was wir alle
entwicklungsgeschichtlich einmal als Erfahrung höchster Beglückung erlebt
haben, überbieten zu wollen: Denn im Unterschied zu früher laufen wir beim
Trinken nicht Gefahr, mit einem falschen Handgriff (bzw. mit einem
unpassenden Biß) den Fluß zum Versiegen zu bringen - z.B. Mutter wird sauer.
Wir sind nicht auf ein kleines Rinnsal angewiesen, wir können auch in großen
Schlucken genießen, wenn wir wollen. Wir müssen uns nicht anstellen, weil die
andere Brust jetzt dran ist oder das Geschwisterchen. Wir brauchen uns beim
Trinken auch nicht groß anzustrengen. Wir staunen hier bei dem Vergleich mit
frühen Formen flüssiger Zufuhr, daß der Mensch sich mit der Erfindung der
Tassen verbessert hat. Und die Nostalgie der paradiesischen Kindheit tritt
für einen Augenblick etwas zurück.
Bisher habe ich vor allem davon gesprochen, was die
Tasse für uns leistet. Dabei habe ich nicht ohne Vergnügen der klassischen
Psychoanalyse eine gewisse Referenz erwiesen bzw. ihrer besonderen
Wertschätzung der frühkindlichen Verhältnisse.
Wir haben auch gesehen, daß die Bedeutung der Tasse
nicht ausreichend damit erfaßt wäre, wenn wir in ihr nur die Leistung einer
Kompensation oder eines Ersetzens früherer und idealerer Verhältnisse zu
sehen versuchten. Ein über die frühen Verhältnisse hinausgehendes Verfügen-
und Genießenkönnen schien uns vielmehr die besondere Leistung zu sein, die
sich für uns mit einer Tasse als Gebrauchsgegenstand verbindet.
Ist die Tasse damit aber schon als ein Bild und
Gleichnis verstanden, welches sich auch in anderen Dingen und Zusammenhängen
zeigen und als Verstehenshilfe nützlich machen kann? Wenn die psychische
Realität "Tasse" sich nach einem bestimmten Gleichnis oder Bild
versteht (also ein Bildverstehen hat), dann muß sie das leisten.
Wie ist das jetzt mit der Tasse? Kann sie uns auch zu
einer Verstehenshilfe für anderes werden? Dazu formulieren wir das bisher
Gesagte jetzt etwas ins Allgemeine um:
Die Tasse, so
haben wir gesehen, ermöglicht uns eine Form stofflicher Zufuhr, in deren
Mittelpunkt eine Art raumschaffender Aufschub steht. Der Stoff, um den es in
unserem Beispiel geht, ist der Tee. Stoff im übertragenen Sinne kann aber
auch etwas ganz anderes sein:
Eine Haltung, z.B. die Einstellung einer bestimmten Sache gegenüber, eine
Idee, die jemanden bewegt - alles das wären Beispiele für etwas
Durchgängiges, das sich analog zum flüssigen Stoff in der Kanne auf dem Weg
in etwas anderes hinein befindet.
Die Tasse gibt diesem Prozeß und Übergang, in dem
sich der Stoff befindet, eine besondere Fassung:
Das Einbringen des Tees in die Fassung der Tasse
gehört zum Prozess der persönlichen Einverleibung des Stoffes schon dazu, der
entsprechende Stoff bleibt aber noch weitgehend unverändert dabei, wenn wir
einmal von einer möglichen individuellen Beigabe (von Zucker oder auch
Zitrone im konkreten Falle) absehen.
Die "Tasse" ermöglicht es uns nun, diesen
Prozeß in ganz bestimmter Weise auszudehnen und zwar so, dass wir das Ganze so
gut wie möglich nach unseren EIGENEN Bedürfnissen und GESETZEN durchführen
können.
Dem Stoff wird dabei sogar eine gewisse Referenz
erwiesen, er muss sich nicht irgendwelche Prozeduren gefallen lassen, die an
sein Wesen rühren; stattdessen kann er sich sogar eines gewissen Raumes
sicher sein, in dem er sich noch einmal, in der ihm eigenen Weise - aber doch
auch schon auf den bevorstehenden "Verzehr" bezogen - entfalten
kann.
Konkret: er
duftet, - oder übersetzt: eine Sache, mit der wir uns gerade befassen, kann
einen gewissen Charme haben, den wir erst einmal so duften bzw. auf uns
wirken lassen.
Ein kurzer Blick zurück: Mit den Streitenden am Anfang hatte ich ein Beispiel
dafür gewählt, wie sich das Seelische einer Beziehung in einem Gleichnis
bemerkbar macht. Seelisches im Bild einer Beziehung zwischen zwei Menschen zu
sehen,
das ist uns nicht ganz so unvertraut. Mit dem
Beispiel eines Vortrags wurde es aber schon ein Stückchen befremdlicher.
Seelisches erschien uns dabei gleichsam quer zu den gewohnten Einteilungen zu
verlaufen und dabei Menschen und Sachen in einem zu verbinden. Mit der Tasse
versuchen wir nun auch an den leblosen Dingen unseren neuen Begriff von
Psyche zu erproben.
Prüfen wir jetzt einmal, ob das Gleichnis der Tasse
uns helfen kann, z.B. auch das Geschehen eines Vortrags in psychologischer
Hinsicht zu verstehen. Schaffen wir das von der Tasse her?
Beziehen wir
uns doch auf diesen Vortrag hier:
Es steht eine neue Art des psychologischen Denkens zur Verfügung - so wie der
Tee in einer Kanne etwa: Gemeint ist das "Bildanalyische Denken”. Man
kann auf verschiedene Weise davon etwas abbekommen: z.B. als Auszubildender
in der psychotherapeutischen Weiterbildung beim Psychosozialen Forum. Da kann
man sich dieses Denken zueigenmachen. Das Zueigenmachen geschieht dann
z.B. ganz konkret in den Gruppensitzungen.
Und so wie die Ausbildungsgruppensitzungen so ist auch der Vortrag zum
zehnjährigen Bestehen hier eine Form, in die ein bestimmter gedanklicher und
haltungsrelevanter Stoff gebracht ist. Dieser Stoff will, dem Gleichnis Tasse
folgend, mit einem gewissen Aufschub behandelt werden, um dann, nach einer
gewissen Würdigung und je nach Geschmack und Bedürfnis für jeden einzelnen in
etwas individuell Verarbeitetes überzugehen. Was aus meinen Ausführungen
jetzt zu Ihnen herüberkommt, muss also noch nicht gleich verarbeitet und
verstanden werden.
So ein Vortrag (sehen wir ihn von der Tasse her) lebt
vielmehr davon, sich gleichsam duftend vor uns hinzustellen. Er enthält
etwas, was im wesentlichen noch unübersetzt ist in die Begrifflichkeit jedes
einzelnen Zuhörers - und was fürs erste auch noch so bleiben darf - obwohl
natürlich am Ende eindeutig die Auflösung steht ins individuelle Verstehen
hinein oder in ein Nützlichmachen für die eine oder andere davon abweichende
Sache. So ein Vortrag wirkt nach. Und die Auflösung des interessierenden
Stoffes, also die Umwandlung in etwas Eigenes, kann auch erst viel später
stattfinden.
Für diejenigen, die es vielleicht noch immer nicht
glauben, daß wir mit dem zufällig gewählten Beispiel der Tasse tatsächlich
ein UNIVERSALES Gleichnis gefunden haben, werden wir dasselbe Gleichnis nun
darauf befragen, ob es uns nicht auch etwas über das Seelische im ALLGEMEINEN
sagen kann:
Sehen wir also, ob wir nicht sogar eine "ganze
Psychologie" von der Tasse her entwickeln können. Natürlich kann das
hier nur ganz kurz angerissen werden. Gönnen wir uns aber vorher erst noch
ein Stückchen gemeinsames Erleben [eingespielt wird Samba de Janeiro]. Das
ist der Sommerhit dieses Jahres "Samba de Janeiro".
Was wir gehört haben, wenn wir es von seiner Wirkung
her beschreiben, können wir einen Ohrwurm nennen. Wir meinen damit einen
Wurm, der jetzt natürlich nicht wirklich in unsere Ohren kriecht, vielmehr
verstehen wir das Ganze in einem übertragenen Sinn. Und das ist logisch
konsequent so. Andererseits spüren wir aber auch, daß da noch ein bißchen
mehr ist als nur das, was die Analogie zu beschreiben vermag: Ein bisschen
meinen wir doch auch tatsächlich, daß dieses Lied uns in die Ohren geht und
eine Art Wurm-Realität besitzt. Beides - also dieses Verstehen im nur
übertragenen Sinne und das Ernstnehmen des Darüberhinausgehenden - geht aber
logisch nicht zusammen.
Und
vorwegnehmend sei schon an dieser Stelle gesagt, daß nach dem Gleichnis der
Tasse genau DAS ein besonderes Kennzeichen des PSYCHISCHEN ist:
Die Tasse macht uns aufmerksam auf eine paradoxe Realität: Und das will
sagen: Im Psychischen geht es weder um etwas Irrationales noch um etwas voll
Verstehbares (also auch nicht um etwas, was sich irgendwann einmal in einer
Reihe von Analogien etwa auflösen ließe).
Natürlich hätten wir uns diesen Charakterzug des Seelischen
auch schon an den anderen Bildern klar machen können, am Beispiel des
"verlorengehenden roten Fadens" etwa oder auch am Bilde des
"Sich-gleich-an-die-Gurgel-gehens". Der Ohrwurm ist nur ein
weiteres Beispiel hierfür.
Ich will das aber an dieser Stelle mit Hilfe der
Tasse noch etwas deutlicher machen. Blicken wir hierzu noch einmal zurück. Da
gibt es den Übergang von der Kanne weg in den Körper eines Trinkenden hinein
- und wichtig dabei ist dieser kleine raumschaffende Aufschub.
Übersetzt heißt das: Psychisches hat mit einem
"Stoff" (Stoff im Sinne von etwas Ganzheitlichem und Durchgängigem)
zu tun, der im Begriff ist, in etwas anderes überzugehen und auf dem Wege
dahin in eine bestimmte, ihn gleichsam aufhaltende Fassung gerät. Das was ihn
dabei "aufhält" ist die Doppelnatur des Seelischen, das weder
Klar-ins-Logische- noch ins Mystisch-magische- Hineinpassen der Geschehnisse.
Diese paradoxe Natur ist es, welche die Verfassung des Seelischen
auszeichnet.
Seelisches tritt uns also immer als etwas Paradoxes
entgegen. Kurz: Wenn wir z.B. das eben gehörte Lied einen Ohrwurm sein
lassen, obwohl wir ja wissen, daß es sich nicht um einen wirklichen Wurm und
um ein reales "im Ohr sitzen" dabei handeln kann - oder andersherum:
wenn wir uns an die handfesten Analogien halten und das eben genannte
"Mehr" trotzdem ausdrücklich MITGELTEN lassen - dann haben wir es
mit dem Seelischen zu tun.
Paßt diese Vorstellung vom Psychischen jetzt auch
noch zu unserer zuerst aufgestellten Formel, die da lautete: "Das
Seelische ist das jeweilige Bildverstehen"? Sie widerspricht der
vorgenannten Formel - wie wir gleich sehen werden - natürlich nicht, sie gibt
nur einen anderen Blick auf die Sache. Das kann aber helfen, unser neues Konzept
vom Seelischen noch etwas genauer und tiefer zu erfassen. Aber auch hier
müssen wir wieder übersetzen.
Bildverstehen sagt ja: "Da ist etwas, was sich
nach diesem oder jenem Bild versteht". Wir tun also so, als ob die Welt
von lauter kleinen Seelen belebt sei - wie in der Philosophie des Animismus
etwa: Da wo wir ein Bildverstehen feststellen, soll also etwas existieren,
das "sich versteht", so als befände sich dort ein der menschlichen
Seele analoges Sein. Natürlich wissen wir, daß es UNSINN ist, z.B. in dem
Ohrwurmhaften des gehörten Liedes eine Art Seele im engeren Sinne zu
vermuten, und wir fassen daher dieses "Sich-Verstehen" auch gerne
in einem übertragenen Sinne auf. Und dann heißt Bildverstehen einfach, daß
etwas NACHVOLLZIEHBAR" (also verstehbar) in sich zusammenhängt.
Mit der von uns gewählten Formel wollen wir aber
darauf hinweisen, daß sich die seelische Wirklichkeit gerade nicht auf das
reduzieren läßt, was mit Hilfe eines Bildes sich voll nachvollziehbar
beschreiben läßt.
Der Begriff vom
"Bildhaften-sich-Verstehen", den wir für die seelische Wirklichkeit
gesetzt haben, soll daran erinnern, daß die psychischen Dinge uns immer als
sehr eigenständig entgegentreten, so als würden sie tatsächlich ihren
"eigenen Kopf" haben und in der Lage sein, sich (und zwar jetzt im
engen Wortsinne) selbst zu verstehen.
Das Tassengleichnis führt, wie wir sehen, unser
Verstehen vom Seelischen auf die ihm eigene Art weiter und verhilft dabei
auch zu einem tieferen Verständnis unserer Formel vom Bildverstehen. Und von
dieser Formel sind wir ja ausgegangen.
Wir erinnern uns: Das Konzept
"Bildverstehen" als Fassung unserer WAHL für DAS, was WIR unter
Psyche verstehen, war der Ausgangspunkt für unser Tassen-Experiment. Es ging
darum zu zeigen, dass jedes beliebige "Ding" aus sich heraus ein
Gleichnis und einen eigenen "Ordnungszusammenhang" entwickeln kann.
Und um es uns nicht zu leicht zu machen, habe ich das Beispiel einer sogenannten
unbeseelten Sache gewählt, also das Beispiel eines zwar alltäglichen, aber
"materialen” Gegenstands.
Wir können jetzt - durch den Umweg über das
Tassengleichnis um einiges klüger geworden - sagen: Das Seelische ist überall
da, wo es darum geht, sich auf ein bestimmtes Doppeltes einzulassen, auf
Zusammenhänge, die man in ihrer paradoxen Natur und in ihrer logischen
Unauflösbarkeit erst einmal so stehenlassen und akzeptieren muss. Und das ist
gut zu wissen - besonders dann, wenn wir vom Seelischen und seiner besonderen
Natur profitieren wollen. Letzteres haben wir ja vor, wenn wir uns das Wissen
um die besondere Natur des Seelischen für eine Psychotherapie und Beratung
fruchtbar machen wollen. Aber hierzu werde ich gleich noch etwas mehr sagen
können.
Schließen wir
also hiermit jetzt unsere Überlegungen zum Beispiel der Tasse als einem
seelischen Gleichnis ab:
Auch die Tasse hat also, wie sich zeigen lässt, ein
bildhaftes Sich-Verstehen, kurz
ein "Bildverstehen":
Sie versteht sich als das Angebot eines kleinen raumschaffenden Aufschubs
innerhalb eines ganz bestimmten, auf Zufuhr und Kontinuität ausgerichteten
Übergangsprozesses.
Damit sehen wir, wenn ich den Faden von vorhin wieder
aufgreifen darf, dass die sogenannten toten oder technischen Dinge mit in den
Gegenstandsbereich einer bildanalytischen Psychologie hineinfallen. Und wir
sehen, dass die Dinge, wenn wir sie erst einmal in ihren eigenen Möglichkeiten
ernstgenommen haben, sich bald als umfassende Formeln und Gleichnisse
erweisen. Sie werden dabei jeweils zu etwas weit über sich selbst
Hinausweisendem. Bilder sind also nicht nur Ausdrucksbildungen VON etwas (und
schon gar nicht bloße Ausdrucksbildungen eines alles bestimmenden
Gesamtzusammenhangs - wie z.B. Goethe es uns in seiner Morphologie zu lehren
versucht hat) - sie sind vielmehr Ausdrucksbildungen im Sinne eines
gleichnisgebenden Zusammenhangs und Formel FÜR etwas.
Welche
Konsequenzen bringt das nun mit sich, den Begriff der Psyche solcherart zu
erweitern?
Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich hier einen
Aspekt besonders hervorheben: Wenn das Bildverstehen die Sache ist, die uns
interessiert, dann tun wir etwas für eine reichhaltigere Welt, für eine Welt,
die uns eine Vielfalt von "in sich verstehbaren" Zusammenhängen
bieten kann. Wir müssen den verspürten Zusammenhängen nicht mehr eine - durch
ein bestimmtes System vorgeschriebene - Ableitung verpassen. Wenn Bilder
gleichsam Formeln sind, welche aus SICH heraus Zusammenhang stiften, dann
können wir auch auf IHNEN unsere Ordnungen bauen. Auch von IHNEN aus lässt es
sich kategorisieren. Ein festes Kategoriensystem allerdings gibt es dann
nicht. Deutlicher: Ein System von Kategorien (also ein festes
Begriffssystem), was die seelischen Zusammenhänge für jeden Fall
gleichermaßen übersetzbar macht, gibt es in einer bildanalytischen
Psychologie nicht.
Sowie Nietzsche das "aphoristische Denken"
gegen das system-gebundene gestellt hat, so stellen wir das bildanalytische
(bild-perspektivische) Denken gegen eine Psychologie, die mit einem System
arbeitet. Durchkämmen wir die Wirklichkeit mit dem Raster des einen oder
anderen psychologischen Systems, wie es eben so üblich ist, dann erhalten wir
natürlich früher oder später eine straff geordnete - und vor allem das System
bestätigende - Abfolge von Zusammenhängen.
Man kann sich gut vorstellen, dass bei einer klassisch
psychoanalytisch ausgerichteten Ableitung z.B. die Welt irgendwann
tatsächlich aus lauter phallischen oder oralen sowie analen oder ödipalen
Vorgängen und ihren Entsprechungen besteht. Im Falle einer bildanalytischen
Betrachtung und Durchforschung der Wirklichkeit wird die Welt hingegen
vielfältiger und lebendiger, eben bildperspektivisch. In diesem Falle schickt
sich jedes Bild an, SELBST ein Gleichnis und damit eine Art "ordnender
Zusammenhang" für das Ganze zu werden.
Schließlich und endlich wollen wir aber nicht
übersehen, dass eine solche Wirklichkeit vielleicht auch Angst machen kann. Es
ist ja nicht gesagt, daß sich jeder Mensch eine solche, vielfältig
zentrierbare Welt auch wirklich wünscht und haben will.
Mit meiner Werbung für dieses Denken möchte ich die
anderen existierenden Auffassungen von Psyche also keinesfalls geringschätzt
wissen. Als Bildanalytiker liegt es mir vielmehr daran, gleichsam Geschmack
zu machen auf etwas Neues, vielleicht also darauf, sich bei Gelegenheit noch
einmal etwas genauer mit unserer Art des "bildanalytisch" genannten
Denkens auseinanderzusetzen. Vielleicht hilft hierzu ja auch die Wendung
unseres Blickes auf die praktischen Konsequenzen dieses Denkens, auf die Konsequenzen
für eine Psychotherapie und Beratung zum Beispiel.
2.
Die Bedeutung unseres Konzepts für eine Psychotherapie und Beratung
Werfen wir zum Schluss noch einen kurzen Blick auf die
Probleme, in die sich das Psychische verwickeln kann - in einer Welt, die
sich in Bildern und Gleichnissen versteht. Was ist, wenn sich unser Handeln
und Erleben plötzlich selbst nicht mehr versteht? Eben hatte irgendwie noch
alles Hand und Fuß und jetzt erscheint es so, als verstünden sich die Dinge,
in denen wir stecken oder die wir produzieren, selbst nicht mehr. Sie
scheinen ohne rechten Sinn und Zusammenhang. Was ist los? Haben wir jetzt
etwas falsch gemacht? Nein! In eine solche Situation kommen Menschen immer
dann hinein, wenn sich ihre Entwicklung in einem Übergang befindet.
Seelisches ist gleichsam im Übergang von der einen Ordnung in die andere
hinein. Umbrüche dieser Art gehören lebenswichtig zu unserer Entwicklung
hinzu, das ist uns bekannt. Und was wir dabei erleben können, ist nicht nur
die Auflösung der ehemals Zusammenhalt gebenden Bildzusammenhänge, sondern
leider auch das noch Fehlen von etwas Funktionierendem Neuen, was die
entfesselten "Kräfte" wieder in ein sinnvolles Ganzes bringen
könnte; höchstens eine Ahnung davon könnte schon dabei vorhanden sein.
Eine ungünstige, aber nicht selten auftretende
Reaktion auf solche - sich andeutende - Umbruchserfahrungen im ganz normalen
Leben ist z.B. das Krankwerden. Das Seelische versucht in diesem Falle
gleichsam mit Gewalt, durch die entsprechende Störung oder Krankheit wieder
ein Sich-Verstehen in die Dinge hineinzubringen: Jetzt weiß man wenigstens,
was oder wo es einem fehlt, alles Weitere kann von jetzt an auf die Lösung
dieses Problems ausgerichtet werden; Seelisches versteht sich wieder, wenn
auch für den Preis eines - wie Sie sich denken können -sehr hohen Aufwandes.
Ich kann mich nicht durchsetzen oder ich bin schüchtern und werde so schnell
rot oder ich habe furchtbare Konzentrationsschwierigkeiten; so oder so
ähnlich kann sich das anhören.
Als Betroffener übersieht man sehr schnell dabei, daß
diese Betrachtungsweise schon selbst Therapie ist und zwar eine Art
Selbstbehandlung der Schwierigkeiten eines Übergangs. Das im Augenblick so
viel Raum einnehmende Sich-nicht-Verstehen der gelebten Zusammenhänge hat
aber sicherlich eine ganz andere Behandlung verdient. Und natürlich kann es
bei einer psychotherapeutischen Hilfestellung nicht darum gehen, auf diese
bereits schon vorhandene Form der Therapie noch eine weitere Therapieform
"draufzusetzen". Der Betroffene muß sich mit Hilfe des
Psychotherapeuten wieder trauen, sich den gelebten,
Sich-selbst-nicht-mehr-Verstehenden Zusammenhängen zu stellen und sich wieder
auf das Ganze seiner Wirklichkeit einzulassen, mitsamt seinen (zu einem
Umbruch immer dazugehörenden) Merkwürdigkeiten. Das Seelische braucht jetzt
eigentlich einen Raum, in dem es versuchsweise das eine oder andere, ihm noch
unbekannte, gleichsam in kleinen Dosierungen an sich und als Wirkung in der
Realität und bei den anderen in Erfahrung bringen kann. Die Tasse als
Gleichnis - wir haben sie ja jetzt im Hinterkopf - würde uns sagen, daß es in
einer Psychotherapie darum geht, einen kleinen raumschaffenden Aufschub sicherzustellen.
Und damit, so glaube ich,haben wir jetzt auch unseren
roten Faden wieder. Eine Therapie z.B. muss helfen, das Übergangshafte des
Entwicklungsprozesses, indem der Betreffende sich befindet, in eine Form zu
bringen. In eine Form, die für eine zeitlang den Betroffenen auf das
Übergangshafte geradezu festlegt. Das ist auch wieder eine schöne paradoxe
Formulierung. Besser können wir aber diesen Vorgang, um dessen Verstehen wir
uns hier bemühen nun mal nicht fassen. Das haben wir ja auch schon im Laufe
des Vortrages feststellen können, als es uns darum ging von der Tasse her
eine universale Aussage über das Seelische zu machen. Wir sprachen von der
Paradoxie als einer besonderen Fassung, in die sich das Übergangshafte der
seelischen Wirklichkeit zu bringen versteht.
Das bildanalytische Denken bringt uns nun dazu, für
den Bereich der Psychotherapie eine wichtige Markierung zu setzen. Und damit
will ich sagen: Unser Denken hat weit ins Praktische hineingreifende Folgen.
Und zwar geht es dabei um den Krankheitsbegriff: Dem heilkundlichen Begriff
von Krankheit muss ein psychologischer an die Seite gestellt werden. Der
heilkundlich orientierte Krankheitsbegriff verführt nämlich dazu, auf die
eben beschriebene Methode des Betroffenen - die den Übergangsprozess ja
abkürzen will - zu sehr einzusteigen und den Betroffenen in seiner
problematischen Haltung zu bestärken. Und das gilt besonders dann, wenn da
noch die Krankenkassen mit ihren berechtigten, aufs Heilen und Bessern
ausgerichteten Ansprüchen als Auftraggeber im Hintergrund mitspielen.
Der bestehende Krankheitsbegriff passt auf die
Perspektive des Funktionierens. Und dieser Blickwinkel steht gleichsam für
eine medizinische bzw. heilkundliche Orientierung der Forschungs- und
Arbeitssweise. Versuchen wir nun aber von unseren neuen Einsichten her das
psychologische Denken dagegen abzuheben, so nimmt das Psychologische für uns
(im Gegensatz zum Funktionieren) die Perspektive der ENTWICKLUNG ein. Jetzt
könnte ich, wenn wir noch Zeit für einen weiteren Vortragsteil hätten, die
Psychologie noch einmal vom Gleichnis der Entwicklung her für Sie entwickeln.
Ich glaube, Sie nehmen mir das jetzt aber auch so ab, daß so etwas möglich
ist.
Wir kürzen also etwas ab: Auch von der Entwicklung
her gesehen gibt es existentielle Probleme, Probleme, die im übertragenen
Sinne auf Krankes und Gesundes verweisen: Die Entwicklung ist demnach
"gesund" (gesund im übertragenen oder im psychologischen Sinne
natürlich), wenn sie krisenfähig ist. Das ist eine wichtige Setzung. Sobald
diese Fähigkeit aber fehlt, also die Fähigkeit, die eigene Entwicklung in
eine Krise einmünden zu lassen, in der es um die Bewältigung eines Umbruchs
von Entwicklung geht, haben wir es mit Krankheit im psychologischen Sinne zu
tun. Diese Unterscheidung zum heilkundlichen Krankheitsbegriff, der ja auf
das Funktionieren aufbaut, ist entscheidend:
Ein Mensch, der sich endlich wieder traut, sich auf
bestimmte Veränderungen einzulassen und der dies jetzt vielleicht gerade in
Gestalt einer körperlichen Störung versteht in Gang zu setzen, der beweist
doch gerade ein psychisches Gesundsein und ist nicht etwa - jedenfalls nicht
im psychologischen Sinne - als krank anzusehen. Die Behandlung eines solchen
Menschen sollte auf keinen Falle unter der Führung eines heilkundlichen
Krankheitsbegriffs erfolgen. Ich denke, Sie verstehen warum. Umgekehrt kann
ein Mensch, nehmen wir z.B. den sogenannten Workoholiker (also den
Arbeitssüchtigen), der vielleicht jeden Tag sein Jogging macht,
ernährungsmäßig auch nur das Beste für sich tut und keinerlei seelisch-körperliche
Beschwerden hat, psychisch schlicht und ergreifend "krank" sein,
denn seine Entwicklungsfähigkeit ist vielleicht zugunsten eines universalen
Beweismusters, mit dem er sich für immer Krisen zu ersparen versucht, bereits
verlorengegangen. Wenn die Entwicklungsfähigkeit fehlt, sprechen wir im
allgemeinen natürlich nicht von Krankheit, und das ist auch gut so. Es
handelt sich ja auch nur um Krankheit im übertragenen Sinne. Und wir wollen
auch nicht in diesem Punkt etwa - nicht daß ich hier jetzt missverstanden
werde - einen neuen Sprachgebrauch einführen. Der Krankheitsbegriff ist zu
stark von einem heilkundlichen Denken bestimmt.
In den letzten Jahren hat sich einiges geändert: Wenn
wir heute von einer Psychotherapie im engen Sinne reden, dann meinen wir
meistens eine entwicklungs- und veränderungsorientierte Psychotherapie.
Teilweise wird unter "Psychotherapie" aber auch eine Dienstleistung
im Sinne der Heilkunde verstanden - und möglicherweise demnächst verstärkt,
durch das geplante Psychotherapeutengesetz. Um Verwechslungen zu vermeiden,
sollte im Falle einer so verstandenen Psychotherapie auch immer von einer
heilkundlich orientierten Psychotherapie gesprochen werden. Dass es sich in
der Anwendung dieser neuen Wissenschaft, also der Tiefenpsychologie, die sich
damals schnell und kräftig zu entwickeln begann, im Kern der Sache gar nicht
um das Geschäft des Heilens und des Gesundmachens handelte, sondern um ein
neues Umgehen mit der Entwicklung einer, an den erlebbaren Zusammenhängen
seiner eigenen Wirklichkeit interessierten Persönlichkeit, das ahnte man in
der interessierten Öffentlichkeit wohl auch damals schon. Das Neue musste sich
aber erst noch als etwas Eigenständiges versuchen abzuheben und
durchzusetzen, und zwar neben dem Bild des Heilkundlichen, nach welchem es
sich anderenfalls ja mehr ums Heilen, Lindern und Bessern statt um
Entwicklung, zu kümmern gehabt hätte. Und das vollzog sich dann - für die
breite Öffentlichkeit wahrnehmbar - im Wesentlichen über die Bewegung der
60er- und die der 70er Jahre, über die einschlägige und die schöne Literatur,
über den, das Psychische ganz neu ins Bild setzenden Film der letzten 40
Jahre und last but not least über das In-Mode-Kommen von Selbsterfahrungen
und psychologischen Weiterbildungen natürlich. Neben der Psychotherapie im
engeren Sinne, die ich - in Abhebung zu einer heilkundlich orientierten
Psychotherapie - entwicklungs- und veränderungsorientierte Psychotherapie
nennen möchte, existiert in der Öffentlichkeit parallel dazu auch noch ein
weiter gefasster Psychotherapiebegriff: Er bezieht die heilkundlich
orientierte Psychotherapie mit ein (inclusive aller Besonderheiten, auch des
Psychiatrischen).
Unser
bildanalytisches Denken macht uns auf den Unterschied von zwei
grundverschiedenen Haltungen aufmerksam, die beide von uns eingenommen werden
können: Die Störungen des Wohlbefindens und Probleme eines Menschen können
nämlich
(a) entweder selbst in den Mittelpunkt gestellt und zum ZIEL einer Behandlung
erklärt werden, oder
(b) zum ANLAß dafür genommen werden, vorrangig etwas anderes zu tun, nämlich
etwas für die Entwicklungsfähigkeit des betroffenen Menschen. Wir wollen die
heilkundlich ausgerichtete Psychotherapie jetzt aber nicht etwa als unseriös
abwerten. Denn: warum sollte nicht auch mit psychologischen Mitteln -
natürlich nur auf Grundlage einer reifen Entscheidung hierzu, auf andere
Weise natürlich nicht - eine Störung beseitigt und die Folgen für die
Entwicklung einmal auf den zweiten Rang gesetzt werden?
Bei der Gründung des Vereins vor 10 Jahren war der
Wunsch ausschlaggebend, einer entwicklungsorientierten Psychotherapie mehr
Raum zu geben und die Psychotherapie - wie wir damals sagten - aus der
heilkundlichen Umklammerung zu befreien. Unser Engagement begann mit der
Entwicklung eines finanziellen Fördermodells für heilkundeunabhängige
Psychotherapien. Im nächsten Schritt wollten wir auch etwas dafür tun, daß
die entsprechende Haltung, die für ein solches psychotherapeutisches Arbeiten
nötig ist, konsequenter als bisher und auf breiterer Ebene gefördert wird.
Also bauten wir eine, den eigenen Wertsetzungen entsprechende
psychotherapeutische Weiterbildung auf mit einem Curriculum, das sich vom
Niveau und Anspruch her im übrigen an den bereits bewährten Standards der
tiefenpsychologischen Schulen orientiert. Dabei entdeckten wir, daß
Interessenten mit verschiedenem akademischen Grundberufen überraschend gute
und vergleichbare Voraussetzungen für die psyhotherapeutische Weiterbildung
mit sich brachten, vor allem, wenn sie in ihrer Studienzeit schon die
entsprechenden Schwerpunkte gesetzt hatten (Der Diplompädagoge z.B. hat sich
ja häufig während seines ganzen Studiums mit der Entwicklung konkret also auch
mit ihr als ein Gleichnis auseinandergesetzt). Berufspolitisch ist es uns -
im Unterschied übrigens zu den meisten anderen Lehrinstituten - weniger darum
gegangen, für eine heilkundliche Anerkennung der Psychologie zu kämpfen.
Wichtiger war es uns vielmehr, auf das umfassendere Ziel eines neuen Denkens
innerhalb der Psychotherapie hinzuwirken und auf ein neues Verständnis
derselben "jenseits" einer rein heilkundlichen Ausrichtung. Der
Kern der Ausbildung, die wir seit 10 Jahren anbieten, liegt in einer
psychotherapeutischen HALTUNG, die wir mit Hilfe eines bestimmten
Ausbildungsganges zu entwickeln und zu fördern verstehen. Die Haltung ist
also das Entscheidende. Sie trägt das konkrete Tun und Handwerk des
"Analytischen Beraters" oder Psychotherapeuten. Haltungen haben
aber die Eigenschaft auch über das hinaus, was ihre Bestimmung im engeren Sinne
ist, wirksam werden zu wollen. Und das beschreibt den geschichtlichen
Zeitpunkt heute, an dem wir uns befinden. Die bildanalytische Psychologie,
die sich bereits in Form einer psychotherapeutischen Haltung bei den
Ausgebildeten und teilweise auch schon bei den noch in Ausbildung
befindlichen Analytischen Beratern und Psychotherapeuten verkörpert hat, will
sich jetzt auch als eine eigene psychologische Betrachtungsweise stärker in
der öffentlichen Diskussion bemerkbar machen. Wir wollen uns in Zukunft mehr
einmischen. Der heutige Tag ist eine Art Startschuß hierzu.
Für mich ist das Psychosoziale Forum in den letzten
10 Jahren eine wichtige Plattform gewesen, ganz grundlegende Gedanken und
Anliegen sowohl in einem anspruchsvollen, lebensnahen Rahmen als auch in der
Gemeinschaft vieler nicht nur Interessierter, sondern auch interessanter und
liebenswerter Menschen einbringen und erproben zu können. Einen Grund, heute
mit Ihnen hier zu feiern, brauche ich also nicht lange erst zu suchen. Ich
kann ihn fühlen!
Ich danke Herrn
Harald Keller für die künstlerische Ausgestaltung des Vortrags und Ihnen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.
|
Kommentare
Kommentar veröffentlichen