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📑ez (Erlebbare Zusammenhänge)

Kapitel: Ein Blick auf die Wirklichkeit im Ganzen; Absatz 2

"Wir müssen uns von dem alten Bild trennen, dass wir es im Leben stets mit den sogenannten nackten Tatsachen auf der einen und den sie einkleidenden, vom Menschen gemachten Geschichten, auf der anderen Seite, zu tun haben. Vor dem Hintergrund des bildanalytischen Konzepts von einem erweiterten Seelischen können wir alles, was uns begegnet, als einen erlebbaren Zusammenhang beschreiben und auf die Spaltung in ein rein raumzeitliches Geschehen auf der einen Seite (nackte Tatsachen) und ein Bewertendes (deutende Geschichten) auf der anderen Seite, verzichten. Wir beschreiben das Ganze als einen erlebbaren Zusammenhang. Damit bemühen wir uns um eine Beschreibung, die das Eigenlogische des Geschehens mit vergleichenden Bildern und Analogien festzuhalten versucht, statt es in seinen Inhalten nach den Vorgaben eines naturwissenschaftlichen Vorgehens einzuordnen."

Beispiel:

Wenn wir von einer Welt ausgingen, die aus lauter klaren Tatsachen besteht, die uns aber meist nur in den vermeintlich unklaren Zusammenhängen von Geschichten begegnen, so könnte die folgende Beschreibung eines seelischen Zustands z.B. so verfasst sein:
Der Therapiesuchende Herr X ist antriebslos, befindet sich in einer negativen Stimmungslage und zweifelt an sich selbst. Was fällt an dieser Beschreibung auf? Sie versucht sich an objektivierbare Elemente zu halten. Diese sind hier die Antriebslosigkeit, das Zweifeln an sich selbst und die negative Stimmungslage. Diese sollen den seelischen Zustand des Betreffenden so beschreiben, dass ihre Aussagen unabhängig vom je verschiedenen subjektiven Erleben eines Beobachters zutreffend sind.

Es wird also von drei Beschreibungselementen gesprochen, die unabhängig von der subjektiven Wahrnehmung eines Beobachters im besagten Geschehen enthalten sind – das sind hier die Antriebslosigkeit, das Zweifeln an sich selbst und die negative Stimmungslage. Man kann sich darauf sicherlich einigen, was eine Antriebslosigkeit ist, und was wir unter einer negativen Stimmungslage sowie unter einem Zweifeln an sich selbst verstehen wollen. Eine auf diesem Wege übersubjektiv zutreffende Aussage ist also möglich, so dass dieselbe im gegebenen Fall als zutreffend oder auch als nichtzutreffend angesehen werden kann. Nicht zuletzt ist das der Grund dafür, dass mit den drei Beschreibungselementen jetzt so umgegangen werden kann, als hätten wir es mit prinzipiell definierten Elementen zu tun, welche aber noch frei von einer darüberhinausgehenden geschichtenhaften Natur sind, und sich auch nicht mit den relativierenden Folgen eines ihnen eingeschriebenen Potenzials von subjektiven Wirkungen zu befassen haben. 

Bei der Beschreibung nach dem Vorbild einer Naturwissenschaft, so wie sie in diesem Fall stattfindet, geht es atmosphärisch um das Ideal einer modellgenauen Beschreibung. Und das ist der Grund, warum hier Begriffe wie Kategorien verwendet werden, die zu einem Modell von Grund auf dazugehören, auch wenn man die tragenden Kategorien noch gar nicht wirklich kennt. Die drei Elemente im Beispiel sind wie Elemente eines Modells zu verstehen, was die besondere seelische Verfassung des Beispielfalles beschreiben soll. Man gibt sich dabei zufrieden mit den kategorienartig blassbleibenden Elementen, weil ein Modell sein Funktionieren ja auch nicht auf den ersten Blick schon preisgibt, sondern erst in einem darauf aufbauenden weiteren Bemühen.

 Anders ist es, wenn ich dagegen auf das Erlebbare hin beschreibe. Ich kann das, was als erlebbarer Zusammenhang in meine Aufmerksamkeit gerät, auch ausdrücklich auf seine Erlebbarkeit hin beschreiben. Und bei einer solchen Beschreibung kommen die Facetten zum Tragen, die für ein Verstehen des Ganzen über die verschiedensten Verbindungen mit den anderen Erlebenselementen hinweg verantwortlich sind. Sie ersparen uns ein wildes Hinzudichten, was sich am Ende einer modellgenauen Beschreibung zum rein Faktischen kompensierend hinzugesellt. 

Nach dem Vorbild der Naturwissenschaft vorgehend versäumen wir aber diese Möglichkeit. Wir nehmen uns zwar einen erlebbaren Zusammenhang vor, beschreiben ihn dann aber nicht als einen solchen, sondern stellen formalisierend etwas mit ihm an: Wir verleihen ihm unter dem Namen einer Antriebslosigkeit z.B. die Bedeutung einer für spätere Zwecke erst einmal bereitstehende Geschehenskategorie mit einer garantierten, aber dabei auch recht ungenauen Inhaltlichkeit.

Wir suchen in einem solchen Fall also mit objektivierbaren Begriffen eine seelische Verfassung zu beschreiben (Antriebslosigkeit, negative Stimmung, Zweifel an sich selbst). Das bildgenau Einmalige des Geschehens kann auf diese Weise aber nicht erfasst werden, also dichtet der Leser unkontrolliert und nach seinem ganz eigenen Geschmack am Ende immer noch das eine oder andere hinzu. Vielleicht sieht das Bild für den Beschreibenden dann so aus: Da ist jemand, der stimmungsmäßig in ein tiefes Loch gefallen ist und sich nun mit negativen Gedanken darin hin und her dreht, zusammen mit einer zunehmenden Demontage seines Vertrauens in sich selbst.

Was geschieht, wenn wir nicht auf das vermeintlich Objektivierbare abheben, sondern auf die Erlebbaren Zusammenhänge? Eine Beschreibung könnte dann etwa wie folgt aussehen:

Da ist jemand, der enttäuscht und beinah wie beleidigt mit dem Gedanken spielt, sich aus Allem zurückzuziehen, was ihm bis jetzt so wichtig war: nach dem Motto, womit habe ich das eigentlich verdient? Alles hinschmeißen geht ihm durch den Kopf, mit einem Ausmalen der Folgen, die das für ihn selber haben könnte. Peinlichkeit entsteht bei der Vorstellung, dass die Freunde das Ganze als ein Scheitern wahrnehmen könnten. Was übrigens das eigene Erschrecken über das Geschehene ungewollt noch verstärkt. Auch ein Hauch von Selbstbestrafung liegt dabei mit in der Luft, so, als wollte er sich damit auf die andere Seite stellen um mit einem die ganze Bitternis annehmen könnenden: Das hast du jetzt davon“, oder: "Das hast Du wohl nicht anders verdient", parieren zu können. Bei einer Beschreibung auf die Erlebbaren Zusammenhänge hin entstehen also die vielen kleinen notwendigen Verbindungen zwischen den Bildelementen, die das Ganze zu beschreiben suchen. Und so müssen wir auch am Ende nichts hinzudichten.

Wenn wir uns jetzt fragen, was sich aus einem solchen Zusammenhang im Weiteren voraussichtlich entwickeln wird, könnten wir aus der vorliegenden Beschreibung heraus recht gut eine Einschätzung wagen und diese könnte so aussehen:

Der beschriebene erlebbare Zusammenhang besteht im Kern in der Auseinandersetzung mit einem Annehmen oder nicht Annehmen der Folgen des Geschehens, um das es geht. Die hier beschriebene Erlebensgeschichte spielt die Möglichkeiten durch und wird voraussichtlich seine Fortsetzung in einer weiteren Wendung finden, die sich mit dem möglichen Gewinn befasst, den ein Verzicht auf irgendwelche racheverwandte Maßnahmen gegen das Enttäuschtwordensein bringen könnte, jetzt und vor allen Dingen langfristig gesehen.

Wenn wir noch einmal auf das Problem im Ganzen schauen:
Es geht also um eine Spaltung von Tatsächlichkeit und Geschichtenhaftigkeit und darum, wie das Konzept einer Beschreibung auf die erlebbaren Verhältnisse diese überwinden kann. Hierzu ist es wichtig, daran zu erinnern, dass wir uns daran gewöhnt haben, Beschreibungen mit einem wissenschaftlichen Anspruch an dem Vorbild der Naturwissenschaften oder dem der Physik als der Wissenschaft von den raumzeitlichen Zusammenhängen auszurichten.

Eine psychologische Beschreibung, die einen erlebbaren Zusammenhang erfassen will, hebt auf das Erlebbare ab, und sucht es als Solches zu beschreiben. Sie wird aber die Eingebundenheit desselben in das Raumzeitliche nicht leugnen, sondern diese auf ihre eigene Weise dabei mitberücksichtigen: So würde die Heraushebung eines unentwegten Zweifelns z.B. in der Qualität des Unentwegten dem Raumzeitlichen einen Ausdruck verleihen und der Zeitlichkeit auf diese Weise Rechnung tragen. Die naturwissenschaftliche bzw. physikalische Beschreibung dagegen hebt in Allem, was sie beschreibt, auf das Raumzeitliche ab, ohne aber die Eingebundenheit in die Erlebbarkeit als eine Gegebenheit mit in das Beschreiben auf die eigene Weise hineinzunehmen. Die Existenz der Erlebbarkeit verleugnet sie für die eigenen Zusammenhänge grundsätzlich: Das geht soweit, dass sie die raumzeitliche Wirklichkeit über die Unabhängigkeit vom Erleben definiert, kurz: sie versteht sich geradezu über die Erlebensunabhängigkeit.

Statt also der Erlebbarkeit auf die eigene Weise Rechnung zu tragen, hat sie sich darin geübt, vielmehr dem Ausschließen dieser Qualitäten Rechnung zu tragen und im Falle eines Auftretens solcher Elemente, diese als peinliche Anthropomorphisierungen oder Subjektivierungen abzutun.

Sie erledigt diese Form der Auslassung auf eine unspektakuläre, eher stille Art und zwar über den Gebrauch einer Sprache, die gleichsam aus lauter kodifizierten Begriffen besteht. In dieser Sprache entsteht sehr schnell eine dichte, unbeugsame Atmosphäre, die jemanden, der davon weiß und es dennoch immer wieder mal anders versucht, wie eine große, aus dem Gesamtkontext nicht wegzudenkende Einschüchterung, erleben muss. Er spürt, dass er auf diesem atmosphärischen Hintergrund wie über einen falschen Ton sehr schnell in eine störende Auffälligkeit geraten kann. Ein entschiedenes Auftreten mit einer Beschreibung der Erlebbaren Zusammenhänge ist am Ende eine Haltungssache. Mit dem nötigen Mut zur Veränderung und einer Bereitschaft zum Ausprobieren, kann sie aber sehr zuverlässig erworben werden.

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