Mensch und Wirklichkeit
Mensch und Wirklichkeit
Wir können uns fragen: Wie steht der Mensch zu einer Wirklichkeit, die mit ihm zusammen und weit über ihn hinaus existiert? Ist er eingebettet in eine Welt, in der alles, was schon geschehen ist und noch geschehen wird, in irgendeinem Sinne vorherbestimmt ist, oder steht er - wenn auch auf eine noch nicht erklärliche Weise - über derselben? Wir können uns aber auch die folgende Frage stellen: Sieht das Verhältnis von Mensch und Wirklichkeit nicht vielleicht ganz anders aus? Wir Heutigen kommen weitgehend einheitlich in einem bestimmten Bild von diesem Verhältnis überein. Und dieses, will ich im Folgenden durch ein Gleichnis zur Darstellung und in die Krise bringen.
Ein Gleichnis
Stellen wir uns das folgende Geschehen vor: Die Eltern einer Familie mit 4 Kindern, die noch alle zuhause wohnen und im Schulalter sind, erhalten unerwartet durch einen besonders glücklichen Erfolg im familieneigenen Geschäft einen großen Geldbetrag. Davon erzählen sie den Kindern und sagen, dass sie sich etwas ausgedacht haben als besondere Anschaffung für die Familie, über die sie sich bestimmt freuen werden. Die Kinder sind neugierig, was die Eltern sich ausgedacht haben. Aus diesem Grund laden die Eltern die Kinder dazu ein, genau dieses Geheimnis zu erraten und zwar in einem Spiel. In diesem darf abwechselnd jedes Kind eine Frage an die Eltern stellen, die mit einem Ja oder Nein beantwortet werden kann. Die Kinder machen gerne mit und irgendwann, vielleicht nach zwanzig Fragen und Antworten, kommt es zu einem Ergebnis. Ein Swimmingpool soll im Garten der Familie gebaut werden. Die Kinder freuen sich und die Dinge gehen auch wie gewünscht und geplant in Erfüllung.
Ziemlich anders als gedacht
Es gibt in dem Beispiel aber eine wichtige Tatsache, die den Kindern in dem geschilderten Geschehen verheimlicht wird. Die Eltern haben sich nämlich nicht, auch wenn sie so tun, auf irgendeine bestimmte Anschaffung festgelegt, In diesem Punkt täuschen sie ihre Kinder. Sie haben sich nämlich nicht vorausgehend für einen Swimmingpool entschieden, auch wenn am Ende der Swimmingpool als die von den Eltern vermeintlich schon entschiedene Anschaffung herauskommt, die jetzt von den Kindern auch noch richtig erraten wird.
Die Eltern hatten sich für das Ratespiel vorgenommen, auf die Fragen ihrer Kinder so zu antworten, als seien sie Ausdruck der Wünsche, mit welchen sie auf die Anschaffungswahl gerne Einfluss genommen hätten. Die Eltern haben sich also noch nicht entschieden. Sie wollen eine Entscheidung mithilfe des Spieles herstellen. Dafür sprechen sie sich untereinander darin ab, dass sie mit ihrem jeweiligen Ja oder Nein zu den Fragen der Kinder ganz frei sind und lediglich darauf zu achten haben, dass immer noch wenigstens ein Gegenstand als Auflösung des Rätsels bzw. zur Bestimmung der vermeintlich bereits festgelegten Anschaffung möglich ist. Die Eltern sind also offen darin, zu welchen eingrenzenden Eigenschaften sie Ja oder Nein sagen werden, sie überlassen es der Entwicklung der Fragen und den dabei in ihnen aufkommenden Stimmungen und Ideen.
Ein Stück Geschehensablauf im Gleichnis
Das jüngste Kind fragt, ob es eine Sache ist, die größer ist als der Küchentisch an dem sie sitzen. Der Vater gibt Antwort und sagt Ja. Er denkt sich, da gibt es noch so vieles, was mir für das Geld denkbar als Anschaffung möglich ist, da kann ich Ja sagen. Das zweite Kind fragt: Ist es etwas zum Spielen? Die Mutter als die Befragte antwortet Ja und erwähnt: „Im weiten Sinne“, weil sie denkt, dass ihr zu einem großen Gegenstand, der zum Spielen da ist, nicht so viel einfällt, aber, wenn man Sport mit einbezieht, schon. Also sagt sie: „Ja, im weiten Sinne“. Und so geht das Fragen und Antworten weiter.
Am Ende muss sich durch die ins Spiel gebrachten und von den Eltern bejahten Eigenschaften irgendwann eine Verdichtung ergeben, die auf einen bestimmten Gegenstand hinausläuft, der alle zusammengebrachten Eigenschaften und Ausschließungen in sich vereint. Das Spiel findet so ein natürliches Ende, obwohl es von Anfang an einen offenen Ausgang hatte.
Die Eltern verhalten sich in der hier erzählten Geschichte also nicht wie auf ein festgelegtes Ziel hin ausgerichtet, sondern zeigen eine offene Haltung gegenüber dem, was herauskommen kann. Wobei, und das muss man einschränkend sagen, auch eine elterliche Verantwortung als mitspielend gedacht werden muss (der Bau einer Raucherecke im Vorgarten mit einer kleinen, gut bestückten Cocktailbar z.B. würden sie durch ihre Wahl der Beantwortung erfolgreich verhindern.
Übersetzung zu dem Verhältnis Mensch und Wirklichkeit
Im Großen und Ganzen kann man Folgendes sagen: Der Mensch verhält sich zunächst einmal so, als sei die Welt speziell für ihn eingerichtet oder wenigsten doch ihm, dem Menschen, in besonderer Weise zugedacht. Im Ratespiel-Beispiel gibt es die Botschaft der Eltern, dass es um eine Anschaffung geht, die den Kindern bestimmt gefallen werde. Das gibt etwas von der Atmosphäre wieder, die im geschilderten Beispiel einmal die Klarheit der Kinder in sich hat, darüber, dass sie keine Entscheidungsmacht haben (wie sie glauben, wurde ja entschieden, ohne sie zu fragen) und zum anderen aber auch die Hoffnung, dass die Interessen der Kinder in der Entscheidung ganz besonders berücksichtigt worden sind. Die Eltern stehen in dem Beispiel für die Seite der Wirklichkeit, die verantwortlich ist für das, was von Anfang an das Sagen hat. Und diese Wirklichkeit kann durchaus wie im Beispiel der Eltern, weil es sich hier ja um zwei Personen handelt, auch aus zwei Mächten bestehen, vielleicht aus einer metaphysischen (göttlichen) und einer physikalischen, also sich in den Naturgesetzen zeigenden Wirkungsmacht.
Der Widerspruch im Verhältnis Mensch zur Wirklichkeit
Die Menschen glauben einerseits, dass die Wirklichkeit, sie selbst darin miteingeschlossen, fest und bestimmt ist, wie ein determiniertes System. In dem Beispiel ist die Anschaffung und in Analogie dazu demnach alles, was in der Welt noch unbekannt, aber erkundbar ist, von einer determinierenden Wirklichkeit bestimmt und folgt einer determinierenden Struktur. Die Wissenschaft hat in diesem Verständnis der Dinge demnach keine wirkliche Macht, die Beschaffenheit dieser Welt originär zu bestimmen. Sie kann vielmehr die bestimmenden Zusammenhänge nur finden (oder wie die Kinder im Beispiel das scheinbar Festgelegte nur erraten). Die Entscheidungen liegen in der Hand einer Macht, die außerhalb des Menschen liegt, so wie im Ratespiel alle Entscheidungsmacht für die Anschaffung nach dem Verständnis der Kinder nur bei den Eltern zu liegen scheint.
Andererseits spielen die Menschen sich aber immer wieder mit ihren weitausholenden Träumen und Fantasien in diese determiniert gedachte Wirklichkeit hinein, so, als könnten oder müssten sie irgendwie doch die gottähnlichen Bestimmer darüber sein, was die Welt im Innersten zusammenhält. In der Übersetzung auf das Familienbeispiel können wir in den Kindern auch ein Gefühl in Führung sehen, dass es in allen wichtigen Entscheidungen doch zuletzt immer um sie selbst, also um die Kinder zu gehen habe. Sie könnten doch davon ausgehen, als Kinder in der Familie ein Privileg zu besitzen, weil die Familie prinzipiell dem Wohl der Kinder und ihrer Entwicklung gewidmet ist und das könnte sich hintergründig in ihrem Tun und Fühlen überall mit zum Ausdruck bringen. Analog hierzu könnte auch der Mensch der Auffassung sein, eine privilegierte Stellung in der Schöpfung einzunehmen – und das seiner geistigen Fähigkeiten wegen.
Spaltung und wie sie überwunden werden kann
Der Mensch produziert im Verhältnis zur Wirklichkeit eine von ihm selbst kaum wahrgenommene Spaltung: Einerseits halten wir es für völlig unvernünftig, den Glauben an eine allesbestimmende und über uns stehende Realität abzulegen, andererseits glauben wir aber daran, dass uns am Ende doch ein Platz außerhalb einer solchen Determination zuzukommen habe und wir in allem Großartigen, was uns Menschen bewegt, doch nicht nur die Fantasierenden sind.
Wir Menschen sollten aber von Folgenden ausgehen: Die Wirklichkeit ist nicht in ihren sogenannten letzten Regeln und Geheimnissen festgelegt, sondern stellt diese im Zusammenspiel mit dem Menschen und seinen Experimenten in einer fortlaufenden Entwicklung und zu einem ernstzunehmenden Teil immer wieder her. Und das tut sie natürlich mit ein paar eigenen Vorgaben, die daher rühren, dass die Wirklichkeit im Ganzen sich auch vom Menschen abzuheben hat - so wie es sich in der Beispielsgeschichte auch im Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern zeigt.
Wenn der Mensch sich klarmachen könnte, dass die Wirklichkeit nicht so festgelegt ist wie er es, ähnlich den Kindern in dem Ratespielgleichnis, allzu gerne glaubt und wenn er es für möglich halten könnte, dass die Wirklichkeit sich tatsächlich für alles das interessiert, was er zur selben beizutragen hätte, so würde manches anders laufen im Hier und Jetzt und auch atmosphärisch käme es zu einer sich erneuernden, lebendigeren Wirklichkeit.
Autor: Werner Mikus
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Foto: https://media04.kraichgau.news/article/2016/09/09/5/31735_XXL.jpg
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