Hin zu einer Psychologie des Atmosphärischen

 


  Hin zu einer Psychologie des Atmosphärischen

 

Neueinschätzung der unbewussten Anteile in unserem Erleben

Erleben und Verhalten sind wie zwei Seiten von ein und derselben Sache: Von einem Verhalten können wir auf ein bestimmtes Erleben schließen und umgekehrt von einem Erleben auf ein Verhalten, das diesem Ausdruck verleiht. Manche Anteile im jeweiligen Erleben und Verhalten sind uns bewusst, andere wiederum nicht. Das war uns schon immer bekannt, aber erst Freuds gelungener Versuch, im Psychischem etwas zu sehen, das ein durchgängiges Wesen hat, so wie die Gravitation, die sich ja auch nicht des nachts von der Erde verabschiedet, brachte eine Wende. Das Interesse wechselte von den bewussten Anteilen unseres Erlebens auf die unbewussten, die entweder direkt zu beobachten oder auf die eine oder andere Weise über den Kontext zu erschließen sind. Sigmund Freuds Entwurf von einer durchgehend wirksamen seelischen Natur führte auch außerhalb der Psychoanalyse zu der Erkenntnis, dass die unbewussten Vorgänge und Prozesse den weitaus größten Teil von dem ausmachen, was am Ende unser Erleben und Verhalten bestimmt. Und das wurde auch bald als Grund dafür erkannt, dass ein Verstehen der Zusammenhänge im Erleben und Verhalten so schwierig ist und uns eine belastbare Einschätzung nach den im Alltag bewährten Regeln nicht wirklich gelingen kann.

Wenn wir in enger Anlehnung an das Modell Freuds in den unbewussten Prozessen des Seelischen etwas sehen, das angesichts einer ichhaften Zensur nicht nur das Produkt einer mehr oder weniger gelungenen und sich gelegentlich in Symptomen äußernden Verdrängung ist, sondern vielmehr auch die stoffliche Grundlage für alle kulturbildenden und kulturerhaltenden Leistungen, dann haben wir ein schon recht umfängliches Bild vom Seelischen. Carl Gustav Jung hatte noch einmal für eine Erweiterung des Unbewussten gesorgt, indem er auf die Wirkungen von Archetypen verwies, die sich nicht aus den persönlichen Entwicklungen der Individuen herleiten, sondern aus einem kollektiven Unbewussten stammen. Im Zuge eines sich weiterentwickelnden Denkens innerhalb einer Psychologie, die ein Verstehen der Zusammenhänge aus dem Seelischen selbst und nicht hirnphysiologisch herleiten möchte, haben wir es heute mit einer Erweiterung der unbewussten Prozesse eines viel größeren Ausmaßes zu tun.

Die erlebbaren Zusammenhänge zum Mittelpunkt einer Psychologie erklären

Wenn wir von den erlebbaren Zusammenhängen statt von einem Verhalten und Erleben sprechen, kommt der Potenzialität, also dem, was noch nicht eingetreten ist, aber die Möglichkeit dazu hätte, eine besondere Bedeutung zu. Jedem Erleben liegt eine Erlebbarkeit zugrunde in Form eines erlebbaren Zusammenhangs. Und ein solcher Zusammenhang ist immer von bildhafter Natur. Entweder existiert er manifest in der Gestalt eines konkreten Erlebens und Verhaltens oder aber er existiert latent als eine erlebbare und nicht realisierte aber gegebene Möglichkeit. Und damit bekommt der Raum der jenseits unserer direkten Kontrollierbarkeit mitspielenden Prozesse einen beinah unendlichen Zuwachs. Denn von einer unbewussten Qualität ist auch alles das, was in einer atmosphärischen Verdichtung um alle Geschehnisse herum als potenzielle Weiterentwicklung enthalten ist.

In den erlebbaren Zusammenhängen geht es genau wie in dem tatsächlich Erlebten immer um bildlich gemeinte Verhältnisse, also um Ereignisse gleichnishafter Natur. Diese zeigen sich in dem einen oder anderen konkreten Erleben gleichsam manifest. Überwiegend erweisen sie sich aber auf eine latente Weise und zwar in der Form von potentiellen Geschichten und entwicklungsträchtigen Szenarien als äußerst wirksam. Dieses, unser manifestes Erleben und Verhalten tausendfach begleitende Mitwirken potenzieller Geschichten und Verfassungen hat den bedeutungsmäßig umfangreichsten Anteil an allem, was wir am Ende als gelebte Wirklichkeit zu sehen bekommen.

Wir bekommen dieses Mitwirken, was seine besondere Natur und seinen ungeheuren Umfang betrifft, kaum oder nur sehr indirekt mit. Es macht sich uns erfahrbar in der Gestalt des Atmosphärischen.

Das Atmosphärische als Überlagerung von Möglichkeiten

Das Atmosphärische kann man sich vorstellen als eine Überlagerung von allen möglichen Geschichten und geschehensfortsetzenden Szenarien, die in einer gegebenen Situation sinnstiftend denkbar sind. Aus diesem Grund ist das Atmosphärische auch ein eher formloses Ganzes, das sich um jeden manifesten Handlungsstrang herum aufspüren lässt. Das tun wir aber, jedenfalls in den meisten Fällen, nicht. Dieses dichte und hochkomplexe Wirkungsganze des jeweiligen Handlungshintergrunds lässt sich nur sehr schwer erfassen, so dass es uns nur mit sehr komplexen Bildverhältnissen und Geschichten gelingen kann, dieses treffend zu beschreiben. Wenn wir in einen anspruchsvollen Kontakt mit diesem Feld von Bedeutungen treten wollen, müssen wir versuchen, in Fühlung zu gehen mit dem Ganzen der gegebenen Situation. Und hierbei kommt es darauf an, auch die sogenannte unbeseelte Natur in das Ganze mit einzubeziehen. Der Begriff des Sich-Einfühlens hat von dieser Zielsetzung her gesehen eine zu enge Ausrichtung und sollte dem Bild eines In-Fühlung-Gehens Platz machen, weil wir dadurch den Blickwinkel erweitern und zwar über die gewohnte Fokussierung auf ein rein menschenzentriertes Geschehen hinaus.

Die Regeln, die für den Übergang vom Wirkungspotenzial eines Augenblicks in ein manifestes Erleben gelten, sind von anderer Natur als die, welche sich aufgrund der kausalen Wirkmuster eines manifesten Geschehens als ordnend erweisen. Wir müssen die plötzlichen Manifestationen immer auf die Haltung hin befragen, für die sie eine Ausdrucksbildung sein könnten, um dann – unter weiterer Führung des Atmosphärischen – einer richtungsgebenden Deutung, passend Stellung zu beziehen. Die eingeschlagene Deutungsrichtung selber lässt sich aber immer erst nach der Tat korrekt einschätzen, denn erst dann sehen wir an der Antwort, die uns der Prozess beschert, mit welcher Haltung oder Deutungsrichtung wir dem Geschehenden tatsächlich gegenübergetreten sind und können uns diesbezüglich mit einigen weiteren Schleifen in einer klärenden Entwicklung mitbewegen.

Erklärungsformen, an die wir uns gewöhnt haben

Wenn wir uns nicht auf den besonderen Gegenstand des Atmosphärischen methodisch angemessen einlassen, werden wir nicht weiterkommen, sondern nur das erfahrbar machen, was uns die hergebrachten Methoden, seelische Zusammenhänge zu verstehen, erlauben. Und diese hergebrachten Methoden lassen sich mithilfe der folgenden drei Setzungen überschaubar machen:
Erste Setzung: Entwicklung verlaufe vom Einfachen zum Komplizierten.
Zweite Setzung: Eine Ausrichtung in der Entwicklung finde entweder durch ein Idealbild oder durch ein Schreckbild statt.
Dritte Setzung: Es gibt systemähnliche Ordnungen, in denen das Erleben und Verhalten ein funktionierendes Zusammenspiel haben. Dieses Zusammenspiel zeigt sich in Haltungen, Einstellungen, Gewohnheiten und in Charakterbildungen, mit Weiterwirkung bis in die ganz konkreten Ereignisse hinein. Mit dem in der dritten Setzung benannten Zusammenspiel von Erlebens- und Verhaltenszusammenhängen verbindet sich auch die Idee der determinierenden Strukturen mit Berufung auf die Kausalität.
Bei Anwendung dieser, von den benannten Setzungen ausgehenden methodischen Prinzipien, können wir unsere Arbeit aber nicht auf ein neues und erweitertes Verständnis von den unbewussten Vorgängen hin weiterentwickeln. Deshalb schauen wir noch einmal auf das Unbewusste, dass in seinem Umfang ja um ein Vielfaches größer gedacht werden muss, als bisher angenommen wurde. Es zeigt sich auf der einen Seite immer als etwas Inhaltliches (Begehrlichkeiten) und auf der anderen Seite als etwas, seinem Wesen nach, Methodisches (Regulierung). Diese beiden Seiten wollen wir uns im Folgenden einmal genauer anschauen.

Inhalte und Methoden sind nicht bewusst

Die methodische Seite des Unbewussten können wir uns wie folgt vorstellen: Hier geht es um Mechanismen, die einer Regulierung in Form einer Auseinandersetzung der eigenen Entwicklungen mit den Vorgaben einer Realität dienen oder um eine Abstimmung der eigenen Begehrlichkeiten untereinander.

Die inhaltliche Seite der unbewussten Prozesse zeigt sich in den verschiedensten Begehrlichkeiten. Diese können Ärger machen, weil sie oft nicht mit den Ansprüchen einer Realität übereinstimmen und eine diesbezügliche Bearbeitung bräuchten. Sie zeigen sich oft in der Form eines direkten Drängens (Begehrlichkeiten). Das kann Ärger machen in einer Welt, in der viele ganz unterschiedliche Interessen aufeinandertreffen und sich durchsetzen wollen. Deshalb sind Prozesse, die auf Gefahren mit sich bringende Inhalte ausgerichtet sind, uns oftmals nicht bewusst, so, dass wir einem ersten Ärger aus dem Weg gehen, indem wir versuchen, den besagten Wunsch auf eine unschuldige Weise erst einmal unberührt zu lassen. In einem solchen Fall setzen wir vielleicht darauf, dass bestimmte ebenfalls unbewusst ablaufende Prozesse, die auf eine Vermittlung und Kompromissfindung aus sind, uns in diesem Fall helfen, auch ohne Verzicht mit unserem Wünschen durchzukommen. Vielleicht wird das Begehren ja nur etwas verkleidet und kann sich auf diese Weise ins Spiel bringen, ohne den zu befürchtenden Widerstand zu erfahren. Eine solche Umwandlung geschieht meist ebenfalls unbewusst.

Eine neue Ausrüstung tut not

Was ändert sich am Ende dadurch, dass wir die zu jedem Handlungsstrang dazugehörenden, aber nur atmosphärisch erfahrbaren Geschichten mit ins Kalkül ziehen müssen, wenn wir Vorhersagen treffen wollen? Die Inhaltlichkeit ist jetzt nicht mehr so ein verlässlicher Anhaltspunkt, wie es allgemein einmal die vielen mit Scham und Peinlichkeit verbundenen und oft auf die Sexualität zurückgehenden Inhalte für den Psychologen in uns waren. Und damit verliert auch unser Wissen über die mit diesen Inhalten eng verknüpften regulierenden Methoden an Bedeutung für das erfolgreiche Deuten und Verstehen.

Durch die Orientierung unseres Erklärens an den seelischen Inhalten, die uns Ärger bereiten können und den naheliegenden Verarbeitungs- oder Regulierungsformen, besitzen wir eine Ausrüstung, mit der wir uns, auch ohne die Hilfe einer psychologischen Theorie an die Deutung eines Geschehens heranmachen können. Diese Art von Ausrüstung legt uns aber allzu sehr fest, weil sie, um es in der KI-Sprache auszudrücken, nur an einem sehr eingegrenzten Material trainiert worden ist. Und wenn wir in die Kategoriensysteme der verschiedenen psychologischen Theorien schauen, sieht es nicht viel anders aus. Es fehlt uns ein Training an den alltäglichen und überall stattfindenden Übergängen von einer atmosphärisch sich anbietenden Potenzialität, als Begleitung eines konkret feststellbaren Zustands in eine manifeste und endliche Gestalt, die im gleichen Augenblick sich in eine neue Bedeutungspotenzialität verwandelt und den Hintergrund für einen nunmehr neuen Zustand in einer Entwicklungskette bildet, die sich nach einem erkannten Muster fortzubewegen scheint, welches sich aber sehr schnell auch als fehlleitend erweisen kann.

Das Atmosphärische und das Ziel einer Intensivierung

Ein wesentliches Merkmal einer Psychologie des Atmosphärischen besteht darin, den letzten Antrieb jeder Entwicklung in einer Intensivierung des Zusammenwirkens zu sehen. Der grundlegende Antrieb jeden Geschehens liegt von einer Psychologie des Atmosphärischen her gesehen nicht in der Aufrechterhaltung des jeweils gelebten Systems und seiner Zusammenhänge.

Einer Intensivierung geht es nicht primär um den Erhalt eines Status. Sie hat vielmehr ein anderes Ziel und schließt dabei die Fähigkeit der Erhaltung eines funktionierenden Zustands mit ein. Die Erhaltung eines eigentlich gut funktionierenden Zusammenhanges zeigt sich in dem gelungenen Prozess einer Intensivierung zuletzt immer auch als miteinbezogen. Denn von einer gelungenen Weiterentwicklung her gesehen hat der besagte Status nichts von seiner systemrelevanten Leistung verloren, weil sie transformativ überführt werden konnte in das neue Gesamt hinein. Mit dieser Eigenheit des Seelischen ist auch eine weitere Besonderheit im Psychischen gegeben: Erweiterung und Erhaltung stehen sich in einer Psychologie des Atmosphärischen nicht wie in einer Polarität gegenüber. Vielmehr stehen sie wie zwei Komponenten zueinander, die sich gegenseitig in den Dienst nehmen können. Und in der Steigerung einer Entwicklung geht es um ein Verhältnis von beiden, in welchem das Erweitern nicht in den Dienst eines Funktionierens gestellt wird, sondern umgekehrt, um ein Verhältnis, in welchem das Funktionieren sich explizit und nachhaltig in den Dienst einer Weiterentwicklung stellt.

Autor: Werner Mikus

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