Wirklichkeit ist emotional verfasst

 



Geschichten sind universal
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sie sind der Stoff aus dem die erlebbaren Zusammenhänge bestehen. Erlebbare Zusammenhänge ereignen sich immer in Form von Geschichten (Geschichten im weitesten Sinne). Sie wollen uns etwas erzählen und beschreiben. Dabei haben sie die Wirkung von Gleichnissen. Und das ist der Grund, weshalb wir in allen entsprechenden Zusammenhängen auch von Bildern (Bildern im Sinne von Gleichnissen) sprechen. Der Name Bildanalytische Psychologie ist davon abgeleitet; er will nicht, wie man glauben könnte, bevorzugt auf die optischen Bilder hinweisen, die natürlich auch ihre Geschichten erzählen und jeweils auch als Gleichnis für etwas Auserzählbares stehen.

Auch die materiale Natur erzählt Geschichten
Die erlebbaren Zusammenhänge, wenn wir sie denn in der ihr eigenen Form beschreiben, stellen sich immer als Geschichten dar, oder anders ausgedrückt: in einer ihrem Wesen nach bildhaften (sprich: gleichnishaften) Form. Das ist ganz unabhängig davon, ob diese Zusammenhänge sich auf irgendeinen Menschen oder etwa auf eine rein materiale Angelegenheit beziehen. Ein Wassermühlrad z.B. hat ein Funktionieren, dass als ein erlebbarer Zusammenhang beschrieben und erfahren werden kann. Und sein Funktionieren verstehen wir, weil es einer echten Geschichte folgt (es folgt in ihr nämlich eins aus dem anderen, einem am Ende sinnmachenden Prozess im Ganzen folgend). In dem Beispiel vom Mühlrad wird deutlich, dass die Geschichte ihr Wirken hat, auch ohne das der erlebende Mensch noch erzählend eingreifen muss. Das Funktionieren erzählt von sich aus, was eins nach dem anderen und in welchem Sinn zu erfolgen hat. Aber auch, wenn kein Mensch der Ansprechpartner ist: Wir finden in der Natur Vorgänge, die ihrem Wesen nach der Logik eines Bildes folgen. Wir können sehen, wie eine bestimmte Geschichte das Auftreten der einzelnen, sich aus dem inneren Zusammenhang ergebenden Dinge genau passend auswählt. Demnach können wir beobachten, wie sich ein rein physikalischer Zusammenhang so verhält, als ob er mit allem Wenn und Aber ein ganz bestimmtes Ziel verfolge, auch wenn ihm hierfür kein Bewusstsein zugesprochen werden kann. Es gibt immer eine Geschichte, welche die Zusammenhänge einer Wirklichkeit beschreibt und vorhersagbar macht, wenn es auch - wie in diesem Fall - die von einer rein physikalischen Wirklichkeit ist. Und dieser geschichtenhafte Zusammenhang trifft in seiner Wirksamkeit auch voll und ganz zu, egal, ob gerade ein beobachtender Mensch davon Kenntnis nimmt oder nicht. Geschichten sind also überall vertreten und organisieren ein Zusammenhängen. In ihrem Wesenskern sind sie das Ausdrucksmittel der erlebbaren Zusammenhänge unserer Wirklichkeit.

Geschichten auch im naturwissenschaftlichen Denken:
Wir können die Welt und die Wirklichkeit auch auf zwei weitere universale Perspektiven hin beziehen, entweder auf die Perspektive der raumzeitlichen (Physik) oder auf die der formalisierenden Zusammenhänge hin (Mathematik). Nehmen wir den ersten Fall und beschreiben die Wirklichkeit auf die raumzeitlichen Zusammenhänge hin. Wir können dann sehr schnell feststellen, dass wir uns hier ebenso der Geschichten bedienen, wenn wir z.B. einen Prozess der Wärmeentstehung beschreiben wollen. Wir werden hierzu zunächst die Elemente einer sich ereignenden und erzählbar werdenden Geschichte festlegen: Da gibt es zunächst einmal die umgrenzte Weite eines Raumes, dann das Vorhandensein einer festen Zahl von kleinsten Gegenständen, welche hier z.B. die Moleküle oder Atome sind und zuletzt noch die mehr oder weniger schnelle Bewegung der besagten Gegenstände (Atome oder Moleküle) im Raum. In unserer Geschichte lassen wir den Raum kleiner werden, ohne dass sich die Menge der kleinsten Objekte darin verändern darf. Die Geschichte ist jetzt dazu herausgefordert, ein nachvollziehbares Folgegeschehen für den nunmehr kleiner werdenden Raum (Enge) zu finden. Sie löst diese Aufgabe so, dass sie den Objekten eine schnellere Bewegung zuspricht und das ist im bildhaften Sinne etwa die eines Herumtobens im Raum. Da mit einem solchen Geschehen eine Qualitätsänderung in Richtung Wärme festzustellen ist, erzählt uns die Geschichte nun davon, wie die Qualität der Wärme als raumzeitliches Phänomen verstanden werden kann.

Von Geschichten ausgehen und wieder zu Geschichten zurück
Die Physik wird in ihrem Vorgehen tatsächlich überall von solchen und ähnlichen Geschichten bewegt. Sie hat es aber in ihrem Bereich weitgehend mit Abzählbarem zu tun (z.B. mit den Atomen oder Molekülen wie im Beispiel gesehen). Aus diesem Grund setzt sie Beschreibungen ein, welche einen formalisierenden Blick auf die raumzeitliche Wirklichkeit richten. Und diese Formalisierungen überlagern in Form von Ergebnissen dann genau die Geschichten, welche dem Laien ein besseres Verstehen ermöglichen würden.

Wir können von den Hilfsmitteln der Mathematik (mit denen es um die formalisierenden Zusammenhänge geht) ebenfalls zu den elementaren Geschichten unserer Wirklichkeit der erlebbaren Zusammenhänge kommen. Diese Art von Geschichten haben allerdings eine Formalisierung durchgemacht und sind so mit allen Konsequenzen in die Beschreibung der universalen Perspektive einer Mathematik übergegangen. Am Ende jeder, auf die raumzeitlichen Verhältnisse abhebenden physikalischen Untersuchung, sollte das jeweilige Ergebnis wieder auf die Geschichten zurückgeführt werden, die das Erforschen der jeweiligen Sache grundlegend geleitet haben und darüber hinaus das allgemeine Verstehen der Sache leiten können.

Im Medium eines Austauschs
Geschichten verbinden uns Menschen mit der rein materiellen Natur der Welt auf eine ganz besondere Art und Weise. Ihre besondere Macht besteht darin, einen Austausch zu ermöglichen, der ohne die Spaltung in Materie und Geist auskommen kann und uns ein zwanghaftes Einheitsdenken erspart, in welches uns umgekehrt der Monismus, egal von welcher Seite her, hineinbringen würde.

Geschichten sind universal und Zeuge dafür, dass die Wirklichkeit emotional verfasst ist. Wir können sie, in allen Gegenstandsbereichen als beschreibende Gleichnisse nehmen, und auch in der Auseinandersetzung mit der raumzeitlich gedachten materialen und der formalisierenden Welt leisten sie ihren Dienst. Wenn wir so vorgehen, schauen wir mit neuen Augen in die Welt und können neue Aufgaben sehen und bewältigen lernen.

Werner Mikus


Bild: Pixabay


Titel: Zitat aus Prozess und Realität von Alfred North Whiteheads;  Suhrkamp




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