Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen - Weltgemeinschaft und Ukrainekrieg

Zeitenwende und Zugang über ein Märchen
Die Welt hat sich verändert, mit einem Schlag. Die politische Atmosphäre in ihr ist spürbar eine andere geworden und das wohl unumkehrbar. Im Folgenden will ich versuchen, mit einem bildanalytisch-psychologischen Konzept ein Verstehen herauszuarbeiten und eine Einschätzung wagen, wie mit der veränderten Wirklichkeit umzugehen ist. Das Grimm‘sche Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, wird dabei die Rolle einer Formel übernehmen, welche die einzelnen Aspekte und Ergebnisse in einer überschaubaren Weise zusammenbringt.


  

               Bild von Paul Brennan auf Pixabay

    

Im Märchen versucht jemand vergeblich, das Fürchten zu lernen. Aber das Märchen macht sich über diesen Versuch lustig und will zeigen, dass es dem Protagonisten in der Geschichte um etwas Anderes geht: Eigentlich möchte er jemand sein oder werden, der mit Mut auf bedrohliche Situationen zugeht und nicht furchtlos und ungerührt wie ein Automat. Vor allem nicht so wie sein erfolgreicher Bruder, der sich verbiegt und sich wohl schickt in alles hinein, aber Angst hat, nachts über den Friedhof zu gehen. Das Besondere eines Mutig-Seins kann er auf diese Weise nicht erlernen, also nicht durch ein beweisführendes Antreten gegen alle möglichen Bedrohlichkeiten der Welt. Mutig wird er erst, nachdem er seinen bisherigen Weg aufgegeben und sein Schicksal mit dem eines anderen Menschen eng verbunden hat (bis, dass der Tod euch scheidet). Erst in einer solchen Bindung stellt sich für ihn das ein, wofür das von ihm so überschätzte Fürchten steht und was ihm am Ende als ein Gruseln nahe- und unter die Haut geht. Im Märchen erfährt der Furchtlose das, was ihm doch immer gefehlt hatte erst in dem Augenblick, als seine Frau ihn mit einem Bottich voll Wasser und zappelnden Gründlingen aus dem Schlaf gerissen hat und diesem das Gruseln kommt.

Gefahren bannen oder in Fühlung gehen
Wie sieht das Umgehen der Weltgemeinschaft mit einer Bedrohung aus, die sich in der weltpolitischen Landschaft mit längerem Vorlauf entwickelt hat? Die beiden Söhne im Märchen, die ein unterschiedliches Verhältnis zur Angst haben, bieten sich dazu an, über zwei mögliche Methoden des Umgangs mit Bedrohlichkeiten nachzudenken, und zwar ganz allgemein und weltpolitisch ganz konkret. Der eine Sohn wird als jemand geschildert, der sich in alles wohl schickt und nach der Devise lebt: früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will. Er ist erfolgreich auf vielen Ebenen, aber hat Angst, nachts alleine über den Friedhof zu gehen. Der andere Sohn, dem das Märchen den Namen verdankt, ist jemand, der nicht sehr anstellig ist, nicht weiß was er will und wer er ist, der sich aber auf seine Art vor nichts und Niemandem fürchtet.

Im Märchen sind die Bedrohlichkeiten handfester Natur (boshafte Geister z.B.) oder von ganz lächerlicher Art (Angst im Friedhofsdunkel). Weltpolitisch gibt es eine Bedrohungslage, auf die ich diese beiden Methoden im Folgenden beziehen möchte. Den beiden im Märchen dargestellten Methoden ist etwas gemeinsam: sie bannen das Bedrohliche und führen dazu, sich nicht genau mit den Bedrohlichkeiten auseinanderzusetzen und sich davon berühren zu lassen. Deshalb darf unser Übertragungsversuch des Märchens auf die politischen Verhältnisse nicht den gleichen Weg einer Probleme bannenden Verkürzung gehen. Der Versuch verlangt vielmehr, dass wir uns im Vorhinein schon ganz genau das Bedrohliche anschauen. Und zwar eingedenk dessen, dass wir dabei ganz ungewollt vielleicht selbst ins Fürchten oder Gruseln geraten.

Ein Blick ins Zentrum der schwer überschaubaren Bedrohungslage
Vor etwa 30 Jahren wurde offiziell die Sowjetunion und damit ein Imperium aufgelöst. Die Erschütterungen dieser Auflösung enthalten einige Gefahren. Eine Welle von Umbrüchen sind in einem solchen Fall zu erwarten. Die Weltgemeinschaft müsste sich auf diese Erschütterungen einstellen. Hat sie das getan oder ist hier ein nebliges Durcheinander entstanden, das wie in dem Märchen ein genaues Eingehen auf das Bedrohliche mehr oder weniger gründlich verhindert hat?

Was wir erst bei genauerem Hinsehen merken ist, dass es gar nicht um den Untergang einer Zivilisation oder eines Kulturraums geht, sondern um den Untergang von etwas anderem: Es geht vielmehr um einen Untergang, der weltpolitisch kaum im Fokus ist und um jeden Preis abzuwenden versucht wird und dabei in eine Situation des Sich-Aufbäumens gerät. Es geht dabei gleichsam um den Untergang eines Geschäftsführungsmodells, welches bis dahin möglich gemacht hatte, das durch den Niedergang des Zarenreiches herrenlos gewordene Imperium mit allen seinen Teilen zusammenzuhalten und gleichzeitig zunächst vier, dann insgesamt 14 weitere Staaten politisch und wirtschaftlich in ein Boot zu holen (1922 Gründung der Sowjetunion). Es handelt sich hier um ein kader- und parteibasiertes Regierungsmodell, welches seine Inkarnation im sogenannten Kreml hat, da, wo die Fäden zusammenlaufen. Dieses Geschäftsführungsmodell steht nun auch seinem Untergang gegenüber, seit sich die Sowjetunion aufgelöst hat und die Unionsstaaten in die Unabhängigkeit gegangen sind. Ein letztes Aufbäumen gegen diesen Untergang findet statt: Russland hat sich als alleiniger Erbberechtigter an der Sowjetunion erklärt und so den Sitz im Uno-Sicherheitsrat mit Vetorecht erhalten sowie auch von den ehemaligen Unionsstaaten die Atomwaffen (z.B. Ukraine). Gleichzeitig hat es den Versuch gemacht, die ehemaligen Unionsstaaten in einem Nachfolgebund zu verpflichten, sich gegenseitig wirtschaftlich und sicherheitstechnisch, natürlich unter der Führung Russlands, zu unterstützen (Gründung der GUS).

Zunächst stieg Georgien (2008), dann die Ukraine (2014) aus, die drei Baltischen Staaten hatten von Anfang an nicht in dem Verbund mitgemacht, so dass von den 15 noch 10 Staaten in der GUS und damit in dem Nachfolgeverbund verblieben sind. Die Methode der Beherrschung des Bundes funktioniert nicht mehr. Das bewährte Geschäftsführungsmodell ließ sich nicht mehr auf die neuen Verhältnisse anwenden, weil die revolutionäre und weltverbessernde Ideologie einer kommunistischen Partei jetzt fehlte, um die alte enge Bindung untereinander und an die Zentrale rechtfertigen zu können. Wenigstens musste ein neues Feindbild gefunden werden. So entstand schließlich das Bild von einem wachstumshungrigen und mit faschistischen Kräften paktierenden Westen. Und von diesem wurde auch ausgiebig Gebrauch gemacht.

Das Bestehen auf Einflusszonen als Rettungsversuch
Jetzt werden andere Mittel nötig. So z.B. die Erpressung mit territorialen Eingriffen, welche die Faktizität einer Einflusszonenpolitik fortsetzen hilft, so, als stünden die Nachfolgestaaten der Sowjetunion auch heute noch unter der Führung einer Sowjetunion, die ihr Geschäftsführungsmodell in die Hände der Kremlführung eines Russlands übergeben hat, welches als Alleinerbe des aus 15 Unionsrepubliken bestehenden ehemaligen Imperiums versucht, im besagtem Raum immer noch das Sagen zu haben. Außerdem wird versucht, eine neue Ideologie zu kreieren und zu propagieren: Es ist die Ideologie von der besonderen Beschaffenheit der Russischen Welt (Russische Mir), welche zumindest die drei Großen, Belarus, die Ukraine und Russland vereinigt und die sich von einer dekadenten Welt des Westens als eine Welt abhebt, die beschützt zu werden verdient. Geschützt zu werden gegen alles Westliche mit der eingeschlossenen Folge, dass es im „Russländischen“ vorgeht wie in einer Familie und dass analog zur Familie als einer heiligen Sache natürlich auch Opfer gebracht werden müssen (Militäroperation in der Ukraine, Opfer der Bürger durch die Sanktionspolitik des Westens). Die Weltgemeinschaft hat es mit dem Abwehrkampf eines untergehenden Geschäftsführungsmodells zu tun, was sich mit militärischen Mitteln und Erpressungen wie in einem letzten Kampf gegen ein Versagen desselben aufbäumt und dabei skrupellos vorgeht.

Eine mutige Auseinandersetzung wird auf zweierlei Weise vermieden
Die Weltgemeinschaft ist mit dieser Entwicklung so umgegangen, wie es uns das Märchen zeigt: da ist einmal die Methode, sich mit dem Land, von dem die Bedrohung ausgeht, wirtschaftlich so stark zu binden, dass eine kriegerische Aggression auch dem Angreifer selbst zu sehr schaden werde. Wandel durch Handel ist eine Devise, die das beschriebene Bannen der Gefahren herstellen sollte. Die Abhängigkeit von Gaslieferungen z.B. sollte versprechen, dass im Streitfall der Schaden auf beiden Seiten immens sei und man so vor aggressiven Ausbrüchen, mit denen man eigentlich hätte rechnen müssen, auf diese Weise geschützt sei.

Eine andere Methode ist es, auf den Schutzmechanismus eines wachsenden militärischen Bündnisses zu setzen, demzufolge bei einer Verletzung an einer einzigen Stelle im Bündnis sofort alle anderen zur Hilfe verpflichtet sind und somit für den Aggressor mehr und mehr die Erpressbarkeit von kleineren Staaten schwindet, weil diese sich auf den automatischen Schutz durch die NATO verlassen können. Diese Methode ist dem furchtlosen Sohn im Märchen analog angelegt: Das Ideal ist hier ein ungerührtes zur Tagesordnung schreiten, im Bedrohungsfall und ansonsten ohne irgendeine echte Berührung mit den möglichen Bedrohungen zu sein.

Wir sehen: Egal, ob es um ein Arbeiten mit Abhängigkeiten und Verträgen geht (nach dem Vorbild des vom Vater geschätzten Sohnes) oder um ein unschuldiges Herangehen, was keine Furcht kennt oder kennen will: In beiden Fällen wird ein echter Kontakt mit dem, was die wirklichen Gefahren sind (und auch schon länger ihre Wirkung tun), vermieden, die Gefahren, so könnte man sagen, werden gebannt.

Eine solcherart geleugnete Realität wächst aber weiter und irgendwann steht man ihr ungeschützt gegenüber. So wird es mit einem Schlag unübersehbar, dass ein Bannen uns daran gehindert hat, den bedrohlichen Gefahren real zu begegnen. Es ist, als habe man sich dabei ungewollt den Bedrohlichkeiten eigentlich unterworfen. Und das muss nun in einen grundlegenden Haltungswechsel übergehen. Jegliches Bannen sollte beendet werden (also jegliches eitle Fürchten lernen wollen). Die eigenen Werte, die dabei in Bedrängnis gebracht wurden, müssen jetzt zum obersten Ziel erhoben werden, so, dass das eigene Schicksal mit ihm in unauflösbarer Weise verbunden wird. Es muss eine Standhaftigkeit mit einer Bereitschaft dazu entstehen, auch im Scheitern noch hierfür einzustehen.

Das ist wie das Eintreten des Furchtlosen in den Stand der Ehe, in dessen Folge ihm das zukommen kann, was ihm zu einem reifen und lebenstechnisch standhaften Mann macht. Und das ist in diesem Fall das Fürchten, das uns erst die nahe Berührung mit den ganz banalen Dingen des Lebens beibringen kann, wenn wir unser Schicksal nur wirklich und ohne Hintertürchen und Abkürzungen mit diesem verbunden sehen wollen. Alles großspurige Abkürzen und ängstliche Absichern fällt in einer das Leben einschränkenden Weise dagegen ab.

Weltgemeinschaft und Schicksalsgemeinschaft
Die Weltgemeinschaft ist dabei, in diesem Schockmoment ihr eigenes Schicksal mit dem der Ukraine zu verknüpfen. Am Beispiel der Ukraine droht eine Weltordnung unterzugehen (Völkerrechtsgestützte Spielregeln mit Uno-Institutionen) und wir spüren, dass mit dem Untergang der Ukraine auch diese Ordnung untergehen würde. Der Untergang eines bestimmten Geschäftsführungsmodells mit Sitz im Kreml ist das Bedrohliche. Genauer gesagt ist es wie in einem letzten Akt das Aufbäumen dieser dem Versagen geweihten Methode. Das ist ganz und gar gefährlich. Aber alles Klein- und Dranvorbeireden hat genau in dieses Erschrecken hineingeführt. Die abkürzende Vorstellung, es ließe sich eine Lösung für einen gefahrenfreien Umgang mit den Bedrohlichkeiten einer Methode finden, die dem Untergang geweiht ist und sich aufbäumt gegen einen solchen Ausgang, muss aufgegeben werden wie in einer echten Kapitulation. Die Weltgemeinschaft hat dies, so wie ich es momentan wahrnehme, schon getan. Das Schicksal der Ukraine wird zu unserem eigenen. Das führt in eine Zukunft hinein, die uns das echte Gruseln beibringt, die uns aber auch von einer überbordenden Erpressbarkeit befreit. Am Ende kommen wir erneut zusammen in einer jasagenden Kapitulation vor der Unaufhebbarkeit bestimmter Widersprüche, die dem Leben unverrückbar eingeschlossen sind.
Ich denke, dass nicht alles nur schlecht läuft im Augenblick, sondern, dass etwas Neues entsteht, vielleicht ein Gefühl von Weltgemeinschaft.

Autor: Werner Mikus


Kommentare

  1. Das Völkerrecht existiert schon lange nicht mehr und wurde von unseren Partnern wiederholt gebrochen. Jeder hat Einflusssphären, nicht nur Russland. Zu Einseitig, auch

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