Botschaft des Zauberlehrlings

Existenzielle und überformende Zusammenhänge
Wir haben uns daran gewöhnt, die Welt in zwei Bereiche zu teilen: in die Welt der wirklichkeitsbegründenden (die existenziellen) und in die der wirklichkeitsüberformenden Zusammenhänge. Mit den ersteren sind alle Verhältnisse gemeint, die in der Naturwissenschaft und in ihren verschiedenen Bereichen zuhause sind (das Physikalische, Chemische, Biologische z.B.). Die wirklichkeitsüberformenden Zusammenhänge haben in den Geistes- und Kulturwissenschaften ihren Ort (das Philosophische, das Psychologische, oder auch das Soziologische z.B.). Letztere finden aber eine deutlich geringere Wertschätzung in der Welt.




Grundhaltung, die etwas getrennt halten will.
Was könnten die Gründe für die geringere Wertschätzung sein? Dieser Frage bin ich mithilfe einer Analyse des Atmosphärischen nachgegangen.
Den existenzbegründenden (naturwissenschaftlichen) Zusammenhängen haftet etwas Unerreichbares, Überirdisches an. Es ist das, was im frühen Mittelalter das Göttliche war. Man las im Buch der Natur, das von Gott geschrieben war. Man konnte diesen göttlichen Methoden unmöglich mit den eigenen menschengemachten Methoden begegnen, jedenfalls nicht ungestraft. Eine von lateinisch gebildeten Priestern und Bibelexegeten geprägte Zwischenwelt machte es einigermaßen vorstellbar, mit dieser Welt und ihrer Wahrheit in Kontakt zu treten. Später wurde dieser Platz von der Wissenschaft mit ihrer Geheimsprache der Mathematik und ihrem Expertentum eingenommen.

Auch Prozesse in der Natur lassen sich als Methoden verstehen
In der Natur lassen sich Methoden beobachten und beschreiben, nach denen sich die Wirklichkeit herstellt und entwickelt. Die Naturwissenschaft geht diesen nach. Im alltäglichen Tun des Menschen lassen sich ebenfalls Methoden finden: Der Mensch zeigt ein beschreibbares Vorgehen, z.B. beim Aufbau einer Beziehung, wenn er ein Projekt entwirft und begleitet, ganz einfach in allem, was er tut. Nicht zuletzt hat seine Art, Erkenntnisse zu gewinnen (Wissen schaffen) und ein Verstehen herzustellen, Methode.
Methoden dieser Art spielen aber nicht in der Klasse der wirklichkeitsbegründenden Zusammenhänge mit, von denen eingangs die Rede war. Der Zeitgeist plädiert für eine saubere Trennung zwischen den Entitäten einer Wirklichkeit auf der einen Seite und den wirklichkeitsüberformenden und menschengemachten Methoden auf der anderen Seite.

Zauberlehrling als Abkürzung
Wenn ich auf die gängige Bewertung von Methoden des Vorgehens innerhalb der Wissenschaft schaue, fällt mir die Geschichte vom Zauberlehrling ein. Atmosphärisch scheint es mir so, als würde sich der aktuelle, den Wissenschaften zugeneigte Mensch in der seelischen Verfassung eines Zauberlehrlings befinden, der diesen Status ebenso beibehalten als auch brechen will. Er möchte die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die in der Natur für ihn bereitliegen, finden und wie ein Geschenk annehmen können. Dazu muss aber an der Existenz von wirklichkeitsbegründenden Methoden festgehalten werden, die sich von den menschengemachten Methoden als etwas Elementares abheben. Die Trennung beider Welten sollte - und davon geht der Zauberlehrling aus - durch eine Abkürzung überwunden werden (Zauberspruch). Sollte er jedoch das Ziel verfolgen, selbst zu einem Meister zu werden, so müsste er nach dem rettenden Eingriff seines Meisters versuchen, aus dem Unglück zu lernen: Er würde im Folgenden die Bereitschaft zeigen, mit den geheimnisvollen Dingen auf Augenhöhe zu kommen, und seine eigenen Methoden würden sich mit den Methoden der zu erforschenden Sache selbst auseinandersetzen.

Eine solche Entwicklung sollten wir uns wünschen. In der Wissenschaftsgemeinschaft sieht es zurzeit noch eher anders aus. Es genügt hier in der Regel die Absicherung der vermutlichen Zusammenhänge über eine mathematische Analogiebildung (formalisierende Methode) und über ein entsprechendes Modell. Die gleichnishaften Verhältnisse, die sich scheinbar nur überformend an der Sache beobachten und verfolgen lassen, werden nicht mit ins Kalkül gezogen. Hier wird die Spaltung perfekt. Die Folgen dieser Abkürzungen zeigen sich nicht zuletzt darin, dass sich die besagten Zusammenhänge aufmachen, uns in Form von menschengemachten Naturkatastrophen um die Ohren zu fliegen.

Eine neue Zwischenwelt als mutiger Akt
Die wirklich großen Dinge und Zusammenhänge wollen sich nicht in einem Sprung einnehmen und verstehen lassen. Wir brauchen analog zur mittelalterlichen Welt der Bibelexegese oder analog zur Welt der Fachexperten eine neue, zu den Herausforderungen unserer Zeit passende Art von Zwischenwelt, wenn wir in einen echten Kontakt mit den großen Zusammenhängen treten wollen. Diese können wir in der Welt der erlebbaren Zusammenhänge finden, in der Welt des Atmosphärischen. Es geht dabei um Zusammenhänge bildhafter (gleichnishafter) Art, die schon bevor sie in die Endlichkeit eines konkreten Erlebens übergegangen sind, eine Mitwirkung haben.

Wenn die inneren Zusammenhänge einer Sache sich nach einem bestimmten Bild verstehen, dann ist es genau dieses Bild, was die betreffende Sache begründet. Das Bild ist hier mehr als überformend.
Kurz: Die Wirklichkeit in ihren inneren Zusammenhängen versteht sich nach dem einen oder anderen Bild und hat in diesem Sinne ein Bildverstehen. Auf diese inneren Zusammenhänge hin können wir die Wirklichkeit ebenfalls beschreiben. Gegenstand und Methode sind in einer solcherart beschreibenden Welt (oder Zwischenwelt) von gleicher Natur: Bildverstehen ist hier Gegenstand und Methode zugleich.

Unterwegs zu einer meisterlichen Haltung
Ein verfügungswissenschaftliches Arbeiten, was wir uns bisher zu eigen gemacht haben, könnte sich mehr und mehr in ein orientierungswissenschaftliches Arbeiten verwandeln (entsprechend einem Kategorienwechsel nach Hans-Peter Dürr). Wir würden mit einem anderen Grundgefühl durch die Welt gehen und ein reiferes Verhalten an den Tag legen, was dem des Meisters in der Geschichte vom Zauberlehrling nahekommt. Das Wirbeln mit den vielen Besen wäre dann nicht mehr auf der Tagesordnung, es sei denn gelegentlich, als ein Lehrstück vielleicht.

Autor: Werner Mikus


Bild:
 
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/05/Tovenaarsleerling_S_Barth.png?fbclid=IwAR2WMFoB-Pw4tj3aCNxj3WBDJh-5-hea4-44wBhOFDeRFzoqumX1tujrtR0 

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