Polarität im Denken

Ein ausgewachsenes Dilemma




Die Polarität als Dilemma
Wovon ich sprechen will ist ein Ordnungsprinzip, das uns überall hin begleitet und unser Einschätzen und Handeln durchgehend bestimmt. Es ist das Prinzip der Polarität. In allen Zusammenhängen lassen sich Gegensätze finden. Diese haben direkt etwas mit dem Wesen der jeweiligen Zusammenhänge zu tun, darüber ist man sich schnell einig. Schauen wir aber danach, wie  mit den Gegensätzen in den besagten Zusammenhängen umgegangen wird, können wir eine interessante Beobachtung machen. Nehmen wir das Beispiel von stabil und flexibel. 

Wir behandeln diesen Gegensatz meist auf eine nachlässige Weise, indem wir hier formalisieren statt genau hinzuschauen und zu beschreiben. Stabilisierung wird dann mit Festwerden und Flexibilität mit Beweglichkeit gleichgesetzt. Die Reduktion auf Festigkeit und Beweglichkeit stehen sich dann wie zwei Inhalte aus einem Kalkül der formalen Logik gegenüber: Festigkeit als das Nicht-Bewegliche und Beweglichkeit als das Nicht-Feste. Die Folgen sind verheerend: Das Feste erreichen zu wollen heißt dann, das Bewegliche zu verfehlen und das Streben nach der Beweglichkeit, das Feste verfehlen zu müssen. Das Ergebnis dieses durch Formalisierung entstandenen Zusammenhangs ist etwas, das wir ein Dilemma nennen können.

Formalisierung ins Realitätsfremde
Für mich ist es nun sehr wichtig zu zeigen, dass die Methode der Polarisierung es verfehlt, ein ganz reales Verhältnis zu beschreiben. In einem real existierenden Zusammenhang wäre nämlich das Feste ganz einfach in den Dienst einer Beweglichkeit gestellt. Und das Ergebnis wäre so etwas wie eine „Stabilität“. Dies wäre für den Bau eines sich in der Drehzahl verbessern wollenden Kettenkarussells die geeignete Option. Die Drehachse braucht eine ausreichend große „Stabilität“. Im umgekehrten Fall, wenn die Beweglichkeit sich in den Dienst der Festigkeit stellen würde, hätten wir als Ergebnis die „Flexibilität“. Und diese Qualität wäre für den Bau von Hochhäusern in Erdbebengebieten die geeignete Option, weil das Haus über biegbare Gelenke zwischen den Stockwerken gegenüber Erdstößen eine nützliche Flexibilität besäße.

Paradoxie kontra Dilemma
Wir sehen, dass in der Frage nach dem Zusammenwirken von Gegensätzen ein anderes Prinzip an die Stelle eines Dilemmas treten kann: Das Prinzip der Indienstn
ahme! In diesem Sinne zeigt sich in meinem Beispiel Folgendes: Stabilität und Flexibilität sind Qualitäten, die in der Realität tatsächlich vorkommen. Und jede dieser beiden hat etwas von der Qualität der anderen - eben wegen der aufgezeigten Überkreuzung im Prozess des sich In-den-Dienstnehmens.

Eine Psychologie des 21. Jahrhunderts muss das Denken in Polaritäten hinter sich lassen und auf die Realität von Paradoxien zugehen. Zum Schluss möchte ich, weil ich auch auf dem Feld der Psychotherapie arbeite, noch auf das Konzept einer Entwicklungstherapie hinweisen. Entwicklungstherapie wandelt Zusammenhänge, die sich in einem Dilemma verfangen haben wieder in eine offenstehende paradoxe seelische Lebendigkeit um.


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