Die erlebbaren Zusammenhänge - eine Grundwissenschaft
Beobachtung und Idee mit Folgen
Was mich bei der Entwicklung meiner Gedanken zur bildanalytische
Psychologie gerade besonders beschäftigt, sind die voraussichtlichen Folgen
einer ganz bestimmten Idee für die zukünftige Einordnung einer Psychologie in
die Wissenschaftsgemeinschaft. Bei der besagten Idee geht es um die Beobachtung
einer Gesetzlichkeit, die ich mit dem Namen „nachschaffende Sinnbildung“
beschreiben möchte.
Das besondere Verhältnis: Seele, Zeit und Kausalität
Im Seelischen spielen durchgängig Bedeutungen eine Rolle. Sie folgen
aufeinander wie alle Ereignisse überhaupt. Wenn wir uns aber fragen, ob in
ihren Abfolgen die Zeit wie gewohnt eine kausalitätsbedingende Wirkung hat, so
stoßen wir auf ein merkwürdiges Phänomen. Es zeigt sich nämlich - was das
Hervorbringen von Bedeutungen betrifft - eine Zeitumkehr: Das zeitlich zweite
oder spätere Ereignis bringt in diesem Falle das zeitlich frühere hervor - und
zwar in seiner Bedeutung. Das Nachfolgende gibt diesem erst seinen Sinn und das
meint: seine bedeutungsmäßige Realität.
Beispiel:
Ein Hund läuft die Straße entlang.
Damit stellt sich ein besonderer atmosphärischer Zusammenhang ein mit offenen Bedeutungen
nach ganz verschiedenen Seiten hin. Dieser Zusammenhang ist wie eine Mischung
aus den folgenden Richtungen: streunender Hund, Geheimnisvolles geschieht,
etwas kommt bestimmt noch nach, ausgebüxtes oder auch heimlaufendes Tier.
Plötzlich taucht ein Radfahrer auf. Jetzt legt sich ein Zusammenhang in mir fest:
Hund mit Herrchen auf besonderer Weise unterwegs. Vorher war der Hund auch schon
existent, aber in einer eher plastischen und offenen Bedeutung. Aus einem atmosphärischem
Mix von Bedeutungsrichtungen entstand beim Auftauchen des Radfahrers mit einem
Schlag das Bild von einem Hund, der mit seinem Herrchen unterwegs ist und dabei
Spaß hat. Das zweite Ereignis (Fahrrad plus Hund) gibt dem zuerst Gesehenen
seinen festlegenden Sinn. Der möglicherweise ausgebüxte Hund, den man
vielleicht zuerst gesehen hatte, ist jetzt (und war es auch vorher schon) ein
Spielgeselle, der sich lustvoll von seinem Herrchen um ein paar Fahrradlängen
abgesetzt hat.
Nehmen wir es tatsächlich ernst, dass die Tätigkeiten und Produktionen
des Seelischen sich nach dem Gesetz einer nachschaffenden Sinnbildung aufeinander beziehen und verhalten, so schreiben wir, ob wir es wollen oder nicht,
den Phänomenen des Seelischen eine eigene Natur zu, die wir nicht einer
anderenorts schon behandelten Wirklichkeit entlehnen müssen.
Perspektivische Wissenschaften
Die Wissenschaft von den erlebbaren Zusammenhängen hat einen eigenen Blick
auf die Welt und eine hierzu passende Methode. Ihre Perspektive ist universell
anwendbar. Alles ist als ein erlebbarer Zusammenhang beschreibbar, auch ein
nichtexistenter Gegenstand existiert unter dieser Perspektive – etwa, indem ich
ihn wie hier jetzt gerade, als ein Beispiel nehme. Die Physik geht ebenfalls
mit einer universalen Perspektive auf die Dinge zu. Sie ist die Wissenschaft
von den raumzeitlichen Zusammenhängen. Alles kann im Sinne dieser Zusammenhänge
beschrieben werden. Die Methoden der Physik tragen dieser Perspektive
ausdrücklich Rechnung. Mit der Mathematik verhält es sich genauso: Sie hat
ebenfalls eine universale Perspektive: Sie ist die Wissenschaft von den formalisierenden
Zusammenhängen. Alles kann sich als ein formalisierender Zusammenhang zu
verstehen geben. Auch hier sind die Methoden von der Natur der herausgerückten
Sache her auf das Eigenste bestimmt.
Grundwissenschaft wie Physik und Mathematik
Dem oben beschriebenen Verständnis folgend, müssen wir die Wissenschaft von den
erlebbaren Zusammenhängen als eine Grundwissenschaft verstehen, die mit der
Physik und der Mathematik auf Augenhöhe ist.
Kombinations- und Bereichswissenschaften
Andere Wissenschaften können wir als Kombinations- und
Bereichswissenschaften verstehen. Auch eine Psychologie, die sich von den
Erlebens- und Verhaltenszusammenhängen her definiert, gehört dazu. Die
Bereichswissenschaften heben auf einen Bereich von „Objekten“ ab, für welche
sie sich aus den verschiedensten Gründen interessieren, Sie tun das aber nicht
von dem Fundament einer eigenen, universell anwendbaren Perspektive aus. Das
Universelle finden wir dagegen auf eine andere Weise in diesen Wissenschaften
wieder: Sie gehen davon aus, dass es Methoden gibt, die für alle Bereiche
gleichermaßen angemessen sind und wenden diese als eine universelle Methodik an.
Und diese Methodik ist im Wesentlichen ein Mix aus den experiment-orientierten
Zerlegungen klassischer Naturwissenschaft und den Formalisierungsangeboten
einer Mathematik (Stichwort: Operationalisierung als Methode).
Die Wissenschaft von den erlebbaren Zusammenhängen ist eine
Grundwissenschaft
In einer Psychologie mit dem von mir geforderten Format müssen wir eine
Grundwissenschaft sehen. Sie geht nicht wie in den Bereichswissenschaften
üblich mit einem universellen Methodenmix an ihren Gegenstand heran. Sie folgt
vielmehr einer eigenen Perspektive auf die Welt: Es ist die Perspektive der
erlebbaren Zusammenhänge. Diese führt zu einer eigenen Haltung und einer
eigenen an den Dingen selbst entwickelten Methode.
Kennzeichen: Psychologie des Atmosphärischen
Eine Psychologie der erlebbaren Zusammenhänge ist eine Psychologie des Atmosphärischen. Für sie ist das Auseinander-Hervorgehen
von Erleben und Verhalten nicht zentral. Sie interessiert sich vielmehr für
etwas Anderes. Es geht ihr um einen ganz bestimmten Übergang. Gemeint ist hier
der Übergang von der Potenzialität eines Zusammenhangs in die Endlichkeit eines
handfesten Erlebens hinein. Auf das Beispiel mit dem Hund bezogen, würden wir
uns fragen: in welche Art von Geschichte will der Hund, der hier durch die
Nacht läuft, für uns aufgehoben sein und in welche Endlichkeit eines
gefühlsbestimmten Bewertens und Entscheidens geht unsere Begegnung mit
demselben schließlich über?
Zunächst findet ein „In Fühlung gehen“ mit dem Atmosphärischen statt, das
wir mit dem Auftauchen des Hundes verbinden und dann, aus Anlass des
auftauchenden Radfahrers, springt das Wirkungsganze plötzlich um in die
Endlichkeit eines bedeutungsmäßig festlegenden Erlebnisses. Aus dem
erlebbaren Zusammenhang ist ein konkretes Erleben geworden. Es handelt in
diesem Falle von dem lustvollen Mitlaufen eines Hundes, welcher verspielt seinem
Rad fahrenden Herrchen folgt.
Ein solcher Blick auf das alltägliche Geschehen setzt einen anderen und
neuen Akzent auf die Natur des Seelischen und auf seine innere Dynamik. Die
potenziellen Verhältnisse bekommen in einer solchen Psychologie ein besonderes
Gewicht. Und hieraus folgen dann auch neue Fragen, z.B. die Frage danach, wie
die bedeutungsschwangeren Einheiten sich ganz allgemein untereinander verhalten
und wie diese schließlich nachvollziehbar in einer Wechselwirkung stehend mit
den Endlichkeiten unseres Erlebens und Verhaltens gedacht werden müssen. Ein
großes, neues Feld für eine Psychologie, die sich als Grundwissenschaft
versteht.
Werner Mikus
Bildquelle: Strichzeichnung des Autors
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