Die Geschichte von einer dreifachen Kränkung der Menschheit und wie sie sich weitererzählen lässt.



Göttermacht als Wunschbild

In der Entwicklung des Menschen hat wohl lange Zeit der Wunsch gestanden, mächtig wie ein Gott zu sein. Aber die Erfahrungen mit der Natur haben immer wieder daran erinnert, dass der Mensch diesem Wunschbild nicht gerecht werden kann. So ist es nachvollziehbar, dass er sich in einer Welt eingerichtet hat, die von einem Schöpfergott gleichsam für ihn angelegt worden ist, von einem Gott, dem es ganz besonders am Menschen gelegen ist. Als man sich in der Astronomie ein erstes Bild von den vielen Erscheinungen und Bewegungen am Himmel gemacht hatte, fand man in der Konstellation der Gestirne ein passendes Beweismittel hierfür. Der Mensch stand demnach im Mittelpunkt des Universums. Mit dem Aufkommen des Kopernikanischen Weltbildes änderte sich das. Es führte zum Untergang der über 1000 Jahre bestehenden Weltsicht, nach der die Erde sich in deren Mitte befindet, umhüllt von sich drehenden Schalen, auf denen ordentlich alle anderen Gestirne fixiert sind. Hier fängt Sigmund Freuds kleine Erzählung von den drei großen Kränkungen der Menschheit an. Ich will sie hier zur Darstellung bringen, weil sie uns vielleicht auf eine kommende vierte Kränkung aufmerksam macht, die sich vielleicht schon ereignet und der wir unsere Aufmerksamkeit schenken sollten. Ich werde auf die mögliche vierte Wendung am Ende ausdrücklich eingehen.

Verwandlung des Wunschbildes in vier Wendungen

(1) Der Mensch, welcher in der Begegnung mit der Natur immer wieder erfahren musste, nicht allmächtig wie ein Gott zu sein, konnte sich lange Zeit mit der folgenden Überlegung trösten: 
Wenn ich schon nicht Gott sein kann, dann bin ich doch wenigstens das wichtigste Wesen in einem von Gott geschaffenen Universum. Ich bin in dessen Mitte beheimatet, um die sich alle anderen Planeten drehen. Die Welt schien nicht zuletzt durch das von der Kirche hochgehaltene Bild einer geozentrischen Welt auf den Menschen hin angelegt zu sein.
(!) … doch darin irrte er sich.
Tatsächlich sind wir nämlich auf einem Flugobjekt zu Hause, das mit seinen Bewohnern um die Sonne kreist – wobei diese sich im übrigen auch selbst noch in einem All bewegt, das,  wie wir heute wissen, für jede Standort-Relativierung gut ist.
(Kopernikus, und die heutige Astronomie)

(2) Darauf fand der Mensch einen Trost in der folgenden Überlegung:
Wenn wir schon wie auf einem Satelitten um die Sonne kreisen und nicht im Zentrum eines Universum stehen, um dessen Mitte sich alles dreht, so ist doch der Mensch ein Wesen von einer anderen Welt und ist nicht eingereiht in die Ordnung der tierischen Lebewesen.
(!) … aber auch darin irrte er sich
Wir sind sehr wohl von dieser Welt und stammen wie die Affen von den gleichen Vorfahren ab.
(Darwin)

(3) In der Folge sagte er sich dann:
Wenn wir auch mit den Tieren in einer Reihe stehen, so sind wir doch wenigsten nicht wie dieselben programm- und instinktbestimmt, sondern sind durch unser Bewusstsein und freien Willen selbstbestimmte Wesen.
(!) … wir wissen, dass er auch hierin irrte.
Unser Handeln ist im Wesentlichen von Neigungen und Bindungen bestimmt, die uns selbst gar nicht bewusst sind. Und wir wissen, dass der Mensch nur so funktioniert. Die unbewussten Prozesse sind gegenüber den bewussten Prozessen dominierend. Das Unbewusste bestimmt unser Erleben maßgeblich.
(Freud)

(4) Heute sucht der Mensch seinen Trost in der folgenden Überlegung:
Wenn wir auch zugeben müssen, nicht Herr im eigenen Hause zu sein, der in uns unbewusst bleibenden Anteile wegen, so sind wir doch immer noch der Urheber aller Geschichten, die in der Welt kursieren und die wir noch erfinden werden. Geschichten sind mächtig und mit ihrer Hilfe geben wir auch den geschichtenunabhängigen, nackten Tatsachen einen Sinn.
(!) … wir bekommen zu spüren, dass wir uns auch hierin irren:
Nicht nur die erfundenen Geschichten erzählen uns etwas, sondern auch die nackten Tatsachen und unbeseelten Dinge entfesseln ihre Geschichten. Und weil wir nicht wissen, wie wir in ihnen lesen können, bestimmen diese unser Tun auf eine unkontrollierte, besondere Weise mit. Dabei geht es um Geschichten, die meist wenig bis gar nicht personenbezogen sind.
(Neuere Strömungen in der Psychologie, Sprachwissenschaft und Soziologie, legen uns dies nahe)

Wir spalten die Wirklichkeit in Geschichten und Fakten auf

Die volle Aufmerksamkeit des Menschen ist heute auf die Welt der Geschichten gerichtet. Diese heben wir von einer Welt der geschichtenunabhängigen Zusammenhänge ab, wie wir sie in den unbeseelten Dingen und den so genannten nackten Tatsachen vor uns haben. Ein reißender Faden zum Beispiel gehört daher in die Welt der unbeseelten oder geschichtenunabhängigen Dinge, der Ärger über das sich plötzlich verschlechternde Spiel einer Mannschaft dagegen in die Welt der personbezogenen Zusammenhänge und Geschichten hinein.
Wir könnten uns jetzt folgendes fragen: Was wäre, wenn wir Menschen es einem Ding wie dem Faden erlaubten, selbst von geschichtenhafter Natur zu sein? Etwas sehr Interessantes würde passieren: Die beiden getrennten Welten könnten sich in diesem Fall geschichtenhaft begegnen und jetzt gezielt etwas füreinander tun: Ein Faden, der reißt, könnte dann z.B. zum Bild für eine Geschichte werden, die sich auf einem Fußballfeld abspielt (zwischen Spielern einer Mannschaft, den Gegenspielern und einem Ball nämlich). Im Spiel der Mannschaft, zu der man hält, reißt der Faden. Die Spielanlage zerfällt, einzelne Aktionen ergeben nicht mehr den eben noch auf den Platz gebrachten Sinn. Das ist die Geschichte, die uns im Bild des reißenden Fadens dann erzählt werden kann.

 

Es gibt Geschichten, die tatsächlich nicht personbezogen sind

Wichtig zu sehen ist im oben genannten Beispiel Folgendes: Die Geschichte, die sich in dem Bild erzählt, hat Gültigkeit über die Wirklichkeit des wahrnehmenden Subjektes hinaus. Und der Inhalt der so erzählten Geschichte ist ebenfalls von besonderer Art, nämlich nicht von der Art eines personbezogenen Geschehens: Mit dem Fadenriss geht es ja nicht um die Befindlichkeit einer Person. Die Person oder ihre Befindlichkeit „fadenreißt“ ja nicht - weder die wahrnehmende Person noch die, die auf dem Feld herumläuft. Der Faden reißt im Spiel der Mannschaft und das heißt, es geht um das Geschehnis eines überpersönlichen Ganzen.

Unser Umgang mit dem Geschichtenhaften ist schief

Der Mensch von heute entwickelt eine Hybris, was sein Verhältnis zur Macht der Geschichten angeht. Dabei teilt er die Welt auf in eine der "erfundenen" Geschichten und in eine davon sehr verschiedene Welt, nämlich die der (ihrem Wesen nach) geschichtenunabhängigen Dinge und nackten Tatsachen. Sein Umgang mit den Geschichten erhält dabei etwas Exzessives, was aber grade von dieser Trennung herrührt.
Der Mensch von heute könnte aber in Zukunft auch mehr und mehr eine andere Haltung einnehmen: Würde für ihn die Wirklichkeit nämlich in allem geschichtenhaft existieren und sich bewegen, so könnte die Welt der Dinge sich in einen Austausch mit den von den Menschen gemachten Geschichten begeben – und das auf Augenhöhe. Die so genannten nackten Tatsachen müssten ihm dann nicht immer wieder wie geschichteunabhängige Ereignisse auf die Füße fallen. Sie müssten sich auch nicht an allen Ecken und Enden unserer Geschichtenbildung unkontrolliert einmischen, weil es ihnen möglich wäre, sich kommunikativ, über eine geschichtenhafte Herausforderung nämlich, einzubringen.  
Unser Umgang mit der Welt hat etwas von der Aggressivität folgenden Bildes: „Sich die Welt untertan machen!“. Aus einer vermeintlich unbeseelten und geschichtenunabhängigen Welt soll eine Welt geschaffen werden, die aus unseren Geschichten besteht, notfalls mit Gewalt. Die Folgen zeigen sich deutlich in einer hysterischen Dramatisierung nach dem Muster eines Gegeneinanders von Geschichten der Verwahrlosung und denen eines Rettertums.

Ein Blick nach vorn'

Wir könnten uns auf einen neugierigen Austausch mit einer Welt der Dinge einlassen, die wir nicht zu geschichtenunabhängigen Ereignissen und so genannten nackten Tatsachen erklären. Wir müssten hierzu lernen in ihren Geschichten zu lesen und herauszuhören, was sie uns zu erzählen haben. Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Wirklichkeit überall und immer nur geschichtenhaft existiert und sich bewegt, dann befänden sich die Dinge auf Augenhöhe mit den von uns Menschen "erfundenen" Geschichten. Ein Austausch zwischen diesen beiden Welten würde über das Verbindende möglich. Dabei könnten wir es schaffen, die hochgezüchteten Dramatisierungen unseres gesellschaftlichen Alltags hinter uns zu lassen. Darüber hinaus könnten wir es auch schaffen, eine größere Lebendigkeit zu entwickeln, die in der innigen Verbundenheit mit den Dingen um uns herum ihr Zuhause hat. Das heißt: in einer Welt, die unser Handeln tragen "darf" und ihren Sinn nicht darin sehen muss, erobert und konsumiert zu werden.


Autor: Werner Mikus


P.S.
Es gibt eine zuspitzende Version, zu dem hier entwickelten Gedankengang. Er ist hier unter dem Titel: "Über den Dingen stehen?" auf diesem Blog zu lesen. 

Literatur:
„Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“; Freud 1917
  • In diesem Aufsatz erklärte Freud, was einer Psychologie, die sich aus der Theorie der Psychoanalyse herleitet, zu einer Anerkennung als ebenbürtiger Wissenschaft im Wege steht. Ihre Wirkung auf die Gesellschaft stellt er dabei in eine Reihe mit den jüngsten beiden Kränkungen der Menschheitsgeschichte, der kopernikanischen Wende und der Evolutionstheorie.


Bildquelle:https://www.wienerzeitung.at/_em_daten/_cache/image/1x3J4_P4dUMOAnOW5FgnPnCwIgBCAoDR1cLYPasDOuk26IAteLlBFZNS8OY30kad1wT_myH2NNs-qX76vbPEHkbEOjvPvAUW7_omEaFbF-sczT5S3EnfToUHO55fVypDLCVI49LWe6ALo/190118-1509-themenbild-weltmuseum-wien-apa-bilderdienst.jpg

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