Filmszenarisches Arbeiten

- Werkzeug für eine strukturelle Psychotherapie -

 



Wenn wir Menschen zusammen sitzen sehen (in einer kleineren Gruppe oder auch zu zweit), wie sie sich einen Spielfilm anschauen, während sie das Filmgeschehen immer wieder unterbrechen, manchmal sogar nach Sekunden schon, um sich untereinander über das Gesehene und andere Dinge auszutauschen, könnten wir es mit Dozent und Student in einem Film- oder Kunst-Seminar zu tun haben. Es könnte sich aber auch um eine therapeutische Veranstaltung handeln (Selbsterfahrung, Therapie im weiten Sinne). Erlauben wir uns einen Blick auf ein Verfahren, dass sich das „Filmszenarische Arbeiten“ nennt. Entwickelt wurde es aus den Grundannahmen einer Bildanalytischen Psychologie, die dem tiefenpsychologischen Denken nahesteht.

Der folgende Beitrag richtet sich an alle, die psychologisch arbeiten und Interesse daran haben, einen ersten Blick auf die Voraussetzungen und Möglichkeiten eines solchen Verfahrens werfen zu wollen. Da das Filmszenarische Arbeiten von einigen Grundannahmen getragen wird, die das psychologische Geschehen auf eigene Weise auslegen, wird an verschiedenen Stellen auf die je mitzudenkenden Zusammenhänge hingewiesen. Eine genauere Beschäftigung mit einer Bildanalytischen Psychologie und einer zu ihr gehörenden Entwicklungstherapie kann durch diesen Beitrag nicht ersetzt werden (Hinweise auf eine entsprechend vertiefende Lektüre finden sich weiter unten).

Das Filmszenarische Arbeiten geht zunächst davon aus, dass sich im Filmerleben Strukturen aktualisieren, die uns auch im Alltag bestimmen. Der Spielfilm ermöglicht eine gemeinsame Teilhabe an genau den Zusammenhängen, die sich für den Klienten/Patienten unmittelbar im jeweiligen Filmgeschehen herstellen. Der Film ist dazu da, Psychotherapeut und Klient/Patient in eine „gleiche“ dramatische Entwicklung einzubinden, nämlich in die des gemeinsam erlebten Films. Die Art und Weise, die gemeinsame Teilhabe zu nutzen, stellt das Herzstück einer filmszenarischen Arbeit dar. Im Folgenden sollen die Grundzüge dieser Arbeit durch das Vorstellen von vier Kennzeichen beschrieben werden.

Kenzeichen der Methode

1. Aktualisierendes Teilhaben
2. Abgleichmethode
3. Lehrstückmethode
4. Greifbarmachen durch Brüche

Aktualisierendes Teilhaben

Therapeut und Klient/Patient leben in eigenen Welten. Streng genommen findet aber auch ein Teilhaben an der Welt des jeweils anderen statt, ohne dass allgemein darüber im Rahmen des Therapieverlaufs ein verfügbares Wissen existiert. Wir teilen beispielsweise die Sprache, einen kulturell bestimmten Umgangsstil, moralische Werte und ästhetische Vorlieben und die sich daraus ergebenden Chancen und Empfindlichkeiten. Aus diesem Grund kann es leicht zu Verwicklungen kommen, die einer therapeutischen Arbeit schaden könnten. Freud hatte versucht, diese Überschneidungen für die therapeutische Arbeit fruchtbar zu machen und zwar mit Erfolg: Bestimmte Verwicklungen konnten als Übertragungsdeutungen etwas über die seelischen Mechanismen sagen, die im Leben des Klienten/Patienten wirksam sind (Hierzu gehört auch die Deutung der Gegenübertragung, in der ein auffälliges Therapeutenverhalten als eine vom Fall hervorgerufene Gegenreaktion verstanden wird).

Das bewusste Teilhaben in einer gemeinsam zu bestreitenden Sache (hier der therapeutischen Arbeit) trägt aber nicht nur über die Verwicklungen eine Chance für die therapeutische Arbeit in sich. Der Gedanke einer Teilhabe an der Wirklichkeit des anderen führt zu der Idee, sich in der gemeinsamen therapeutischen Arbeit, eine Art Bühne einzurichten, auf der sich die grundlegenden Probleme eines Klienten/Patienten auf besondere Weise aktualisieren lassen. Sie sollen sich hier so zur Aufführung bringen, dass der Therapeut - mit eigenen Spielräumen ausgestattet – auf besondere Weise darin mitspielen kann.

Auf dieser „Bühne“ soll alles, was geschieht, verstanden werden als eine Aufführung der besonderen, gelebten seelischen Verhältnisse des Klienten/Patienten. Alle im Therapeuten selbst ausgelösten Empfindungen und Erfahrungen müssen auf die Logik der strukturellen Geschichten des Falles übersetzt und entsprechend perspektivisch behandelt werden. Die therapeutische Chance besteht jetzt darin, durch ein verändertes Mitspielen des Therapeuten Veränderungsspielräume in den gelebten Verarbeitungs- oder Gestaltungsmustern des Klienten/Patienten erfahrbar werden zu lassen.

Die psychotherapeutische Arbeit im Ganzen stellt schon selbst eine Art von Zwischenwelt dar, in der sich eigene Gesetze einrichten lassen (Psychoanalytisches Setting und Abstinenzregel z.B.). Freud versuchte über dieses „Werk im Ganzen“ neue Wirklichkeitserfahrungen für den Analysanden möglich zu machen. Und das funktionierte z.B. über die Übertragungsdeutungen und über die Analyse der Widerstände ganz allgemein. Man könnte aber auch versuchen, die Veränderungserfahrungen auf einer eigens hierfür eingerichteten Bühne innerhalb der allgemeinen therapeutischen Rahmung stattfinden zu lassen. Ein gemeinsames Filmerleben z.B. könnte es ermöglichen, auf den enormen Druck von Übertragungs- und Gegenübertragungsdeutung verzichten zu können, weil es in einer solchen Arbeit nicht immer gleich um das Ganze geht. Das Filmszenarische Arbeiten bietet sich als eine solche Bühne an. Es sollte wie ein Werk im gemeinsamen Werk verstanden werden oder wie ein Projekt innerhalb des therapeutischen Arbeitens im Ganzen.

Hinter der psychtherapeutischen Arbeit im Ganzen steht das von einer bildanalytisch ausgerichteten Therapie (Entwicklungstherapie) herausgestellte Ziel, nachhaltig die folgende Erfahrung zu machen: Ein Ereignis, das uns nicht gefällt, muss durch ein nachschaffendes Tun in eine neue Bedeutsamkeit gebracht werden und zwar eine Bedeutsamkeit, die dem Nachgeschaffenen rückblickend erlaubt zu sagen: Ja, so habe ich es gewollt, oder: Hätte ich es gewollt haben sollen. Der Prozess der therapeutischen Arbeit im Ganzen macht diese Erfahrung in kleinen Wiederholungen erfahrbar (zuletzt auch von Sitzung zu Sitzung), so dass am Ende darin das eigentliche Gleichnis für eine seelische Lebendigkeit gesehen werden kann.

In einem aktualisierenden Teilhaben geben wir den seelischen Verhältnissen des Klienten/Patienten eine Chance, sich zu zeigen und zwar in seiner besonderen Art des Erlebens und Verarbeitens eines Filmgeschehens. Psychotherapeut und Klient/Patient können dabei gemeinsam an einem herausgehobenen Geschehen (Filmerleben) teilhaben. Eine potenzielle, sonst eher diffus wirksame oder im Ernstfall viel zu viel Druck in sich bergende allgemeine Teilhabe soll hier in einem geschützten Rahmen aktualisiert und experimentell genutzt werden können. Das wird möglich, wenn sich der Klient/Patient und der Psychotherapeut in ein und dieselbe Dramatik eines Filmgeschehens einbinden lassen.

Hierbei helfen Filme, die davon leben, dass sie eine übersubjektive Erlebensentwicklung in Gang setzen (was eigentlich allen Filmen gelingt, die sich in den Kinos durchgesetzt haben). Übersubjektiv meint hier, dass die Wirkungen über das einzelne Subjekt hinwegreichen. Die übersubjektive Entwicklung eines Filmerlebens kann in einer besonderen Weise psychologisch genutzt werden. Neben der geschichtenartigen Einheitlichkeit des Erlebens, in welcher sich Klient/Patient und Therapeut immer wieder (und auch sehr bewegt) treffen können, gibt es nämlich noch einen weiteren Umstand, der genutzt werden kann: Die Spannungsverhältnisse, die sich auf die Wendungen innerhalb der Geschichte beziehen, haben nämlich die Möglichkeit, ihre entgegenlaufenden und doch gleichzeitig stattfindenden Wirkungen wie nebeneinander auf zwei oder mehrere Betrachter verteilt, darzustellen – und das, ohne die Einheit in der übergreifenden Erlebens-Entwicklung aufzugeben.

Das ist möglich, weil eine Wende im Geschehen des Filmerlebens mindestens zwei Seiten im Zuschauenden zum Sprechen bringt. An der Wirkung eines solchen Wendeerlebnisses sind also unterschiedliche innerseelische Bewertungen beteiligt und zwar gleichzeitig. Und diese lassen sich nun auch bequem als Unterschiedenes zwischen dem Therapeuten und dem Klienten/Patienten ausmachen (in einer Gruppe kann es sich auch um mehrere ausgewählte Klienten/Patienten handeln). Das wiederum bietet dem therapeutischen Leiter der Filmszenarischen Arbeit die Möglichkeit, noch etwas anderes aus einer solchen aktualisierenden Teilhabe herauszuholen. Darüber gibt im Folgenden die Methode des Abgleichens Auskunft: Der Therapeut versucht im Sinne dieser Methode durchgehend das Filmerleben des Falles mit seinem Eigenen abzugleichen und verfolgt dabei das Ziel, die tatsächlichen Seelenverhältnisse des Gegenübers verstehen zu lernen und diese Kenntnis, um bestimmte Spielraumerfahrungen erweitert, mit dem Klienten/Patienten zu teilen.

Abgleichmethode

An bestimmten Stellen des Filmgeschehens kann das Erlebte zwischen dem Therapeuten und dem Klienten/Patienten auffallend voneinander abweichen. Dasselbe gilt natürlich auch für den Fall, in welchem mehrere Betrachter gleichzeitig an der Filmszenarischen Arbeit teilhaben. Der Psychotherapeut muss die untereinander abweichenden Erlebensäußerungen immer wieder auf einen miteinander geteilten Filmerlebens-Prozess hin abgleichen. Diese Arbeit fordert eine regieführende Leitung heraus, die das Zusammengehören von Verschiedenem in Einem immer wieder erfahr- und nachvollziehbar macht.
Dass dies einer besonderen Kunst bedarf, kann man sich an der Existenz von drei besonderen Gefahren verdeutlichen, die dabei mitgegeben sind:
(1) Das Abgleichen führt zur Bewertung des Erlebens nach dem Prinzip richtig/falsch
(2) Die Suche nach dem Verbindenden wird zur Konsens-Suche
(3) Der therapeutische Leiter ist auf seine eigene Selbsterfahrung fokussiert.

Das Erleben des psychotherapeutischen Leiters wird als Kontrast gebraucht, von welchem sich das Erleben des Klienten/Patienten als das eigentlich interessierende Erleben abheben kann (und im Falle einer Gruppe gilt das analog auch auf die ausgewählten anderen Betrachter hin). Der therapeutische Leiter der Filmszenarischen Arbeit muss die im Filmerleben erfahrenen Zusammenhänge auf ihre Spielräume hin transparent machen. Und das geschieht, indem er die Abweichungen zwischen dem Erleben des Klienten/Patienten und seinem Eigenen an den entsprechenden Stellen übersetzt. Der therapeutische Leiter der Filmszenarischen Arbeit geht davon aus, dass die lebensbestimmenden Strukturen des Klienten/Patienten sich in den erlebten Filmszenarien aktualisieren. Die darin eingeschlossenen und vom Klienten/Patienten kaum genutzten Spielräume können sich auf diese Weise, also über die Konstellation des gemeinsam geteilten Filmerlebens, besonders eindringlich und beispielhaft abbilden. So können auch die bisher ungenutzten Spielräume vom Klienten/Patienten als etwas erfahren werden, das in den tatsächlich gelebten Formen mitexistiert.

Die Lehrstückmethode

Der filmszenarisch Arbeitende muss in jedem Film mit, dem er arbeitet, eine Überlagerung von Geschichten sehen können. Jede Szene kann nämlich als ein Übergang zwischen gleich mehreren (seelisch grundlegenden) Zusammenhängen verstanden werden. Daher kann auch für jede interessierende Problematik beinah an jeder Stelle des Filmgeschehens eine Art von Lehrstück für das Seelische gefunden werden, ein Gleichnis, das die betreffende Problematik mit allen interessanten Implikationen in ein Bild bringt. Der filmszenarisch arbeitende Psychotherapeut muss geübt darin sein, die verschiedenen Grundbilder, unter Führung der Problemlage des betreffenden Klienten/Patienten, im jeweiligen Filmgeschehen herauszuarbeiten. Er muss die erlebbaren Zusammenhänge sehen, die den gelebten Zusammenhang des Klienten/Patienten entsprechen und zwar mit den Spielräumen, die demselben auf seltsame Weise nicht zur Verfügung stehen. In gewissem Sinne präpariert er diese komplexen Zusammenhänge für den Betreffenden in der Realität des Filmes heraus.

Greifbarmachen durch Brüche

Die erlebbaren Zusammenhänge sind das Fundament jeder seelischen Entwicklung. Sie existieren als sprachbildliche Zusammenhänge, die sich vielfältig untereinander verschränken, ohne dass sie ein konkretes Erleben hervorbringen müssen. Nicht in jeder Überschneidung von Zusammenhängen bildet sich die Endlichkeit eines konkreten Erlebens oder Verhaltens heraus. Aber aus einem erlebbaren Zusammenhang kann etwas Erlebtes werden. Die Bedeutung des erlebbaren Zusammenhangs wird meist übersehen, weil das eine oder andere bereits existierende Erleben den Ton anzugeben scheint.
Die Entstehung eines konkreten Erlebens und Verhaltens setzt voraus, dass erlebbare (sprachbildliche) Zusammenhänge sich untereinander in die Quere kommen. Und dabei kommt das zustande, was wir ein konkretes Erleben oder Verhalten nennen. Solchen Ereignissen kommt auch immer eine gewisse Bewusstseinsqualität zu (Bewusstheit in einem weiten Sinne verstanden).

Die erlebbaren Zusammenhänge (deren Potenzial), die in unseren Handlungen am Werk sind, überlagern einander. Sie bilden dabei vorübergehend stabile Ordnungen aus. Am normalen Verständnis von Psyche gemessen (Erleben und Verhalten) sind diese Zusammenhänge daher auch von auffällig unscharfer Natur. Meist bringen sie sich in Qualitäten des Atmosphärischen zum Ausdruck.

Unser Erleben wird also von Prozessen getragen, die wie aus einem größeren Zusammenhang heraus ihre Wirkung tun. Eine Analogie hierzu finden wir in der Musik. Hier wird die Melodie von harmonischen Verhältnissen getragen, welche diese doch scheinbar nur „begleiten“. Wir lassen uns analog hierzu immer von übergreifenden Verhältnissen führen, von erlebbaren bzw. sprachbildlichen Zusammenhängen. Dabei kriegen wir aber nicht unbedingt immer mit, in welche unterschiedlichen und Widersprüche hervorbringenden Richtungen wir dabei hineingezogen werden. Wir merken davon nur dann etwas, wenn bestimmte Wertsetzungen unseres Tuns durch einen Widerstand (etwas tritt dazwischen) in die Aufmerksamkeit gerückt wird. Kurz: die meisten wirklich wichtigen Dinge bekommen wir ohne eine stattfindende „Störung“ gar nicht mit (ein erlebbarer Zusammenhang kommt einem andern in die Quere).

Der filmszenarisch arbeitende Psychotherapeut konzentriert sich darauf, über ein Herstellen von entsprechenden Brüchen im konkreten Filmerleben die wichtigsten, uns im Hier und Jetzt bestimmenden Verhältnisse, greifbar zu machen. Er arbeitet hierzu mit vielen kleinen Breaks im Prozess des Filmerlebens, die den Betrachter dazu herausfordern, sich darauf festzulegen, wie er sich den Fortgang der Geschichte im weiteren Geschehen des Filmes vorstellt, und ob er sich das Weitergehen der Geschichte möglicherweise vielleicht doch lieber anders wünschen würde. Das tatsächlich eintretende Geschehen im Film wird auf diese Weise auch mit einer höheren Sensibilität wahrgenommen und trägt zu einer Intensivierung der Auseinandersetzung mit den bewegenden Zusammenhängen bei.


Autor: Werner Mikus


*) Im vorliegenden Beitrag habe ich mich für die männliche Form entschieden. Es ist der besseren Lesbarkeit geschuldet und soll nicht als eine genderspezifische Bewertung verstanden werden.


Empfohlene Zusatzlektüre:
 
1) Psychotherapie und ihr Funktionieren 
    - Entwicklungstherapie -
2) Bildanalytische Psychologie
    Psyche als Bildverstehen einer Wirklichkeit
3) Wissenschaft im Wandel
    Psychologie als Grundwissenschaft


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