Rettungsversuch - wenn Seelisches droht, sich selbst nicht mehr zu verstehn

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Kontext: In einer facebook-Diskussionsgruppe (Psychologie des 21. Jahrhunderts) kam die Sprache auf die seelische Erkrankung des Copiloten, der 150 Menschen mit in den Tod gerissen hat. Im weiteren Kontext ging es dann um "krank" und "gesund" in einem eher frei assoziierenden Rahmen. Deshalb nahm ich dort irgendwann die Gelegenheit wahr, einen mir wichtig erscheinenden und grundlegenden Gedanken zum Thema "Kranksein und Seele" in die Runde zu stellen. Am Ende gehe ich noch kurz auf eine wesentliche Voraussetzung hierfür ein.





Menschheit auf der Flucht – und Entfesselung des Ganzen

Problem und die naheliegende aber abkürzende Lösung
Das Seelische hat die Angewohnheit, immer dann wenn es sich selbst nicht mehr zu verstehen droht, nach etwas zu greifen, was die Dinge schnell wieder in die Reihe bringt. Leider ist dieses Mittel dann meist von einer nachhaltig negativen Natur. Aber wie kommt es dazu? Der Mensch möchte sich nicht verlieren und in einen Zustand geraten, in welchem die Verhältnisse, die ihn tragen, plötzlich beginnen, auf eine entfesselte Weise ihr Wesen zu treiben (und das gilt nicht nur für die ganz persönlichen, sondern auch für die übergreifenden, gesellschaftlich-politischen Verhältnisse). Bevor es erst richtig dazu kommt, „erfindet“ sich das Seelische eine Art von Problem oder Krankheit  - also ein irgendwie benennbares Leid - frei nach der Methode "Haltet-den-Dieb". Jetzt weiß das Seelische endlich wieder, wie dann doch alles zusammengeht - wenn nur dies und das getan und verändert werden könnte. Das Unheimliche eines sich nicht mehr Selbst-Verstehenden Ganzen ist damit erst einmal gebannt.

Was ist der Preis dafür?
Die Frage nach dem Preis, den wir am Ende dafür bezahlen müssen, ist leicht zu beantworten: Man hat sich von nun an dauerhaft "verloren", verloren in einem Programm, das von nun an alles nach seinem Regime bestimmen will. Und dass sich so etwas auch in den übergreifenden Prozessen
politisch-gesellschaftlicher Art ereignen kann, lässt sich an dem folgenden Beispiel aus der jüngsten Geschichte zeigen. Das Beispiel macht zugleich sehr schön deutlich, wie die Bilder des Geschehens auf genau die Dinge hinweisen, die in einer Auseinandersetzung mit dem Ganzen ausgeklammert und nicht zugelassen werden.

Anfang 2014 / Es geht um Russland, Europa und die Ukraine / das Russische Imperium leidet unter den Problemen seines fortschreitenden Zerfalls und einer fehlenden Auseinandersetzung mit den Problemen der Aufrechterhaltung eines immer noch binnenkolonial konstituierten Staatensystems. In der Ukraine gibt es den mit Unruhen auf dem Maidan verbundenen Versuch, sich dem europäischen Westen anzuschließen, da macht Russland im kaukasischen Sotchi zur Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele eine "Ansage" an den Westen, und zwar über den Zufall einer Lichterspiel-Panne (bei dem sich der für Amerika stehende 5. Olympische Ring, peinlich vom Russischen Fernsehen überspielt, nicht öffnet). Die unfreiwillig inszenierte Ansage lautete, dass die weltöffentliche, nach dem Vorbild des Kaukasischen Kreidekreises ausgerichtete Erwartung in der Frage nach der Ukrainischen Bindung keinesfalls aufgehen werde (aufgezeigt im verunfallten 5. Lichterring). In der Brecht‘schen Parabel obsiegt ja die gelebte soziale, über die reklamiert genetische Kindszugehörigkeit und in Analogie dazu die einer westlichen über die einer russischen. Die Lichtspielpanne im kaukasischen Sotchi hatte ungewollt, wie in einem Versprecher, aller Welt einen Blick darauf gewährt, mit welcher Politik man im Folgenden zu rechnen habe.

 Sich verloren haben

Der Betroffene hat sich also "verloren" in einem Programm, das alles Weitere bestimmen will. Was wäre in diesem Fall aber angebracht zu tun? Der Betreffende müsste erkennen, dass sich sein Rettungsversuch verkehrt hat in ein Kranksein und ein Festmachen allen Übels an einer "Stelle". In dem "Projekt" einer therapeutischen Arbeitsbeziehung kann dies geschehen: Hier kann der Betreffende erfahren, dass er sich sehr wohl seiner seelischen Wirklichkeit im Ganzen zuwenden kann, ohne dabei in den befürchteten Verhältnissen unterzugehen. In einer Psychotherapie wird der Betroffene seine Abkürzungsmethode wie auch sonst anzuwenden versuchen. Hier wird er aber nicht damit in einen Stillstand von Entwicklung hineingeraten. Das liegt daran, dass er in der gemeinsamen Arbeit mit dem Therapeuten (Therapie-Projekt) erfährt, wie etwas nachträglich! einen ganz anderen und neuen Sinn erfahren kann. Und das, obwohl sich das Seelische in einer nicht ungefährlichen Abkürzung verloren hat - einer Entwicklung, die sich auch im gemeinsamen Projekt der Therapie durchsetzen würde, wenn nicht der Therapeut in der Lage wäre, auf die bisher ungenutzten aber doch vorhandenen Spielräume im Methodischen des Klienten einzugehen.

Abkürzungsmethode
Die so auf die therapeutische Bühne gebrachte Verselbständigung der Abkürzungsmethode ist es aber gerade, die den Betroffenen im Weiteren nun zu einer haltungsrelevanten und lebensverändernden Erfahrung bringt. Und diese Haltung sagt, dass alle Sinnbildung nachschaffend ist und es allein darauf ankommt, dass wir dem Vorausgegangenen durch das ihm Nachfolgende einen Sinn verleihen. Genauer gesagt: Das was am Ende dasteht, gibt dem Vorangegangenen immer erst seinen Sinn; Und das, was dann dasteht (das Werk, die sinnschaffende Tat) muss für sich selbst sprechen, das ist wichtig: Es lässt sich nicht durch ein Schöndenken oder einen noch so geschickten Psychotrick ersetzen. Tatsächlich machen wir aus den unglücklichen Abkürzungsversuchen, die uns zuletzt in die Therapie getrieben haben, auch dadurch schon etwas, dass wir sie entschlossen zum Anlass nehmen oder genommen haben, an einer neuen krisenbereiteren Haltung zu arbeiten.

Eine neue Haltung wird entwickelt

Der zweischneidige Rettungsversuch wird zwar als dumme Abkürzung erkannt, aber kann im Weiteren, durch die Entwicklung einer neuen Haltung, auch liebevoll gewürdigt werden. Dieser zweischneidige Rettungsversuch erhält also durch das Nachfolgende erst seinen definiten Sinn (und deshalb kommt es grade auf das was nachfolgt an und nicht auf ein Herumdoktern am Leiden selbst). Danach läuft das Seelische gleichsam "gesund" weiter mit seinen neuen Veränderungsspielräumen bis es sich möglicherweise noch einmal auf ähnliche Weise verliert. Es ist interessant zu sehen, dass es sich hier um Verwicklungen handelt, die sich auch in den übergreifenden Zusammenhängen einer erweiterten seelischen Wirklichkeit aufzeigen lassen, also auch im Bereich des politisch-gesellschaftlichen Geschehens.

Zum Schluss - eine wichtige Voraussetzung für alles

Unsere Zeit hat nicht gelernt, den "Dingen" selbst etwas Seelisches zuzugestehen. Das Buch, der gute Film, oder auch der erwachende Frühling in der Natur z.B., das sind alles "Dinge", die eine Wirkung tun. Die machen etwas mit uns. Gestehen wir diesen Dingen aber keine eigene seelische Wirklichkeit zu, dann fehlt uns etwas Entscheidendes:
Es existieren dann eben nicht diese wunderbaren "Dinge", die uns durch ihre "Fürsprache" in manchen Fällen gleichsam erlösen bzw. von andrängenden Zweifeln befreien können. Es gibt dann nichts (außer uns Ich-Riesen selbst) das uns "an die Seite nehmen" und zu uns "sprechen" könnte: "Hey, das, was aus "mir" jetzt geworden ist (und es spräche dann das unerwartete Ergebnis einer bestimmten Sache selbst) das habe ich genau dem Ereignis zu verdanken, das 'gestern' für "uns" noch ein Missgeschick und Unglück war."

Wenn wir dem Seelischen also nicht eine eigene, bewertende Wirklichkeit zugestehen wollen, die (locker gesagt) eben auch "außerhalb" von uns selbst existiert, und mit der wir - ohne große Schwierigkeiten - auch in einem guten Kontakt stehen können, dann sind wir allerdings auf uns selbst zurückgeworfen und damit hoffnungslos überfordert. Die Dinge müssen vielmehr selbst zu uns und zu der Welt überhaupt "sprechen" dürfen: Sie sagen uns z.B. "Gut gemacht, so macht es einen Sinn" oder natürlich auch umgekehrt. Wenn wir den "Dingen" so etwas nicht zubilligen, praktizieren wir am Ende nur eine gut verkleidete Form vermeintlicher Überlegenheit, oder böse ausgedrückt, menschlicher "Hybris", die am Ende auch noch unsere Natur kaputtmacht.


Autor: Werner Mikus


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