Die Potenzialität und Endlichkeit erlebbarer Zusammenhänge

 




Erlebbare Zusammenhänge und ihre Dynamik

Die Wortverbindung „erlebbare Zusammenhänge“ lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, dass wir es im Seelischen immer mit Zusammenhängen zu tun haben, die ebenso ein reales wie auch ein nicht reales Dasein haben. Geschichten, die sich zur Einschätzung einer Entwicklung als noch nicht gelebte aber mögliche Ordnungen anbieten, sind real wirksam, weil sie Einfluss nehmen auf die am Ende tatsächlich stattfindende Geschichte und Entwicklung. So ist die Möglichkeit einer sich revanchierenden Zuwendung z.B. durchaus hilfreich für das Gelingen einer aktuellen Bittstellung etwa. Die potenziellen Geschichten stehen denen, die sich schlussendlich manifestieren, aber immer nur wie etwas Potenzielles gegenüber (oder wie etwas „Virtuelles“ nach einem Begriff aus der Quantenphysik).
Entwicklung in zwei Richtungen
Die erlebbaren Zusammenhänge organisieren sich in Entwicklungsprozessen, die ihre Potenzialität in zwei grundverschiedenen Formationen inhaltlich zur Wirkung bringen.
So können wir beobachten, dass sich das Potenzielle über seine Geschichten und Möglichkeiten in den Dienst einer Gefahrenabwehr zu stellen vermag. Damit haben wir die eine der beiden Formationen benannt. Eine zweite, davon abweichende Prozessformation, zeigt dagegen eine andere Zielsetzung. In ihr geht es um die Steigerung und den Ausbau einer seelischen Lebendigkeit. Damit haben wir auch die zweite Organisationsform benannt.
Die Unvermischbarkeit der Zielrichtungen
Beide Prozessformen treten stets unvermischt auf. Sie können sich aber auch gegenseitig unterstützen und zwar durch einen ihnen eigenen Perspektivwechsel. Das sieht im Einzelnen dann aus wie folgt: Nehmen wir die zuerst genannte Prozessform, die der Gefahrenabwehr. Schauen wir uns den Einsatz des Potenziellen in diesen Vorgängen an, können wir erkennen, dass dabei auf eine indirekte Weise auch etwas für den Ausbau und die Steigerung einer seelischen Lebendigkeit geleistet werden kann. Das geschieht aber indirekt, indem etwa eine störende Voraussetzung beiseitegeschafft wird, ein erpresserischer Druck z.B., der in einer Notsituation tonangebend ist, so dass der notwendige Platz für eine anstehende Entfaltung des Seelischen wieder zur Verfügung steht.
Umgekehrt können aber auch die Steigerung und der Ausbau einer seelischen Lebendigkeit etwas für die gemeine Gefahrenabwehr tun. Aber auch das geschieht auf eine indirekte Weise: Eine "gesunde" Entwicklung ist durch die ihr eigene Krisenfähigkeit weit weniger auf die großen, aufrüttelnden Ereignisse angewiesen, um so die vielleicht vernachlässigten aber dringend notwendigen Korrekturen für eine Entwicklung einzufordern. In diesem Zusammenhang spricht man auch von Resilienz.
Die methodische Haltung als Analogie
Die Methoden der beiden genannten Prozessformationen muss man sich in ihrem Wirken wie zwei entschiedene Haltungen vorstellen. Beide Haltungen haben in der seelischen Realität, egal wohin wir schauen, eine ergebnisbestimmende Bedeutung. Das lässt sich gut an einem psychotherapeutischen Prozess aufzeigen. Wir erkennen hier, dass es nicht die einzelne Intervention ist, welche die therapeutische Wirkung erzielt, sondern die Haltung "dahinter", welche sich im jeweiligen Geschehen manifestiert. Der einzelne Akt, kann auch durch einen Zufall erfolgreich sein. Eine zuverlässige Führung und die entsprechende Einschätzbarkeit erhält er aber erst durch die dazugehörige Haltung, von der er sich letztlich getragen weiß.
Eine vom Therapeuten unterstützte Gefahrenabwehr und -Vorbeugung kann wie unbeabsichtigt auch etwas zur Lebendigkeit der seelischen Verhältnisse beitragen. Im Allgemeinen werden solche Vorkehrungen aber eher zu einer Einschränkung der Lebendigkeit führen. Ebenso kann eine, auf die Lebendigkeit des Seelischen ausgerichtete Handlungsweise ganz ungewollt auch etwas zur Lösung einer akuten Problemlage beitragen. Aber aufs Ganze gesehen wird eine solche Zuwendung sich auch bald wieder zurücknehmen können.
Ins Leiden geratene Lebensmethode
Die Vielfalt der eigenen Möglichkeiten kann im Dienste einer Flucht vor einem anstehenden Konflikt eingesetzt werden. Dann geht es darum, die Zuspitzung in eine Krise hinein um jeden Preis zu vermeiden. Das Potenzial der möglichen Geschichten und Bewertungen reduziert sich dabei auf ein Begrenzen, auf das Begrenzen eines Leidens und einer drohenden Gefahr. Die Möglichkeiten werden hierbei in ihrer Inhaltlichkeit auf die Qualität einer Beliebigkeit gebracht. Alles ist gleich gut, weil es am Ende wie alles andere auch nur dem einem Ziel dient und diesem untergeordnet ist.
Über die Endlichkeit und die zunehmende Machtlosigkeit eines eigentlich doch vorhandenen Potenzials weiß der Klient über seine schmerzhaften Erfahrungen im günstigen Falle schon Bescheid. Spürt er doch wie seine Möglichkeiten, die er alle in den Dienst eines einzigen Zieles gestellt hat, sich als Fehlinvestition und als das Ende jedweder Entwicklung erweisen wollen. Eine nachhaltige Erfahrung mit der Endlichkeit ist also schon vorhanden, aber die paradoxe Grundnatur derselben scheint dabei abhandengekommen zu sein.
Umzentrierung des Potenziellen im gemeinsamen Werk
In einer Entwicklungstherapie z.B. weht ein anderer Wind: Hier geht es darum, schon in der leidvollen Zuspitzung einer sich auf der Stelle drehenden Entwicklung den ersten Schritt einer in die Realität tretenden Verwandlung zu sehen. Dieser erste Schritt wird als Einstieg in einen Veränderungsspielräume schaffenden Kipp- und Umwandlungsprozess verstanden, der "zurück" in die Freiheiten einer lebendigen Entwicklung führen will. Wie kann das gelingen?
Auf das Generalthema der Potenzialität bezogen hat auch der Therapeut ein Problem mit der Endlichkeit zu lösen. Er muss alle seine persönlichen Möglichkeiten in die Endlichkeit einer gemeinsamen therapeutischen Arbeit mit gemeinsamen Ziel herunterbrechen können. Die Herausforderung des sich dabei zeigen wollenden Möglichen drängt dabei auf eine Untrüglichkeitserfahrung hin als eine für beide Seiten nachhaltige Begegnung mit der Endlichkeit. Erst in einer solchen Erfahrung kann die Potenzialität des fallspezifisch je Gegebenen seine ganz reale Macht erfahren – und das geschieht in einem seltsamen Gefühl, was nichts und ansonsten doch sehr viel von einer Ohnmachtserfahrung an sich hat.
Eine Erfahrung wird zum zentralen Gleichnis - unteilbar und doch geteilt
Der Klient hat in der Entwicklungstherapie die Möglichkeit zu erfahren, dass er in einem therapeutischen Prozess, in welchem er sich unerwartet verloren hat, zum ersten Mal nicht (wie möglicherweise von ihm erwartet) untergeht, sondern im Gegenteil einen Gewinn dabei macht – einen Gewinn, der für ihn auf andere Weise gar nicht zu erreichen gewesen wäre. Seine Versuche, alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten immer so einzusetzen, dass er in einer ganz bestimmten Entwicklung nicht untergehen kann, hat dazu geführt, dass er sich schließlich in dem Prozess des Verhinderns selbst verloren hat mit der Folge, seine Entwicklung darin gleichsam untergehen zu sehen.
In einer Entwicklungstherapie geschieht etwas Ähnliches mit ihm, aber hier findet das in einem besonderen Rahmen statt, in einer Rahmung, die den paradoxen Verhältnissen von Potenzialität und der Endlichkeit in besonderer Weise Rechnung trägt. In dem Prozess des sich Einlassens auf die gemeinsame Arbeit in der Therapie gelingt es dem Betreffenden, sich sowohl zu verlieren als zugleich auch zu finden. Der Therapeut sichert diese Erfahrung durch seine darauf abgestimmte Mitbewegung. Der Klient kann sich in dem Prozess dann z.B. als der große Abkürzungskünstler entdecken, der für das bedrohliche Untergehen, wenn auch ungewollt, selbst so gut wie alles tut. Wenn ihm das vor seinen Augen mit einem Erschrecken aufgehen kann, ist er für die Zukunft wahrscheinlich nicht mehr bereit, den hohen Preis einer solchen Gefahrenabwehr zu zahlen, sondern offen dafür, sich auf eine immer wieder auch mal gefährlich werden könnende Lebendigkeit einzulassen.
Auch der Therapeut hat es in der Hand, sich auf die paradoxe Dramatik von Potenzialität und Endlichkeit einzulassen oder nicht. Er kann die Herausforderung der eingebrachten Entwicklungsproblematik annehmen und sich für die Lebendigkeit einer für beide Teile nicht ungefährlichen Entwicklung entscheiden, die dem Klienten und auch ihm selbst etwas zumutet bzw. abverlangt.
Er kann aber auch versuchen, im Sinne einer Gefahrenabwehr zu handeln und den therapeutischen Prozess nach dem Vorbild einer Lebenshilfe bietenden Zuwendung gestalten. Er sollte dann aber diese Zielsetzung auch deutlich machen und nicht etwas Anderes versprechen.
Endlichkeit und Potenzialität
Die Ansprüche einer Endlichkeit und die einer Potenzialität geraten naturgemäß immer wieder in Konflikt miteinander. Im Leiden des Klienten und in dem Prozess einer Psychotherapie setzt sich dieses Verhältnis auf zweierlei Weise ins Bild:

Im leidend gewordenen Seelischen zeigt sich vor allem das Ausmaß (Potenzialität) aller möglichen Verwicklungen, weil der genannte Konflikt nicht ausgetragen und in die Endlichkeit gebracht werden konnte.
Im Prozess einer Entwicklungstherapie hebt sich vielmehr die Endlichkeit und zwar in Form eines Gleichnisses heraus, welches einen Veränderungsprozess sichtbar macht, der wegführt von den vielfältigsten Formen (Potenzialität) eines Konfliktvermeidens und seiner Automatik.

Nachgedanken:
Wir müssen der besonderen Natur des Potenziellen entgegenkommen und ihr im Atmosphärischen schon die Bedeutung eines untrüglichen Wertmaßstabes zuerkennen, auch wenn wir den Wert auf ihm nicht sicher ablesen können und uns diesen auch durch die Vorgabe irgendeines Modells nicht geben lassen wollen.
Wenn wir der Potenzialität nur abgespalten nachkommen, stößt dieselbe uns zurück in die Endlichkeitserfahrung einer erstarrten und auf der Stelle tretenden Entwicklung.
Gestehen wir dem Potenziellen dagegen im Atmosphärischen ein untrügliches Erscheinen zu, so belohnt uns jede Manifestation des Potenziellen mit einer strahlkräftigen Endlichkeit. Das Endliche wird dabei zu etwas Einfachem und zu einem Gleichnis.


Foto: Pixabay

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