Aufklärung: Psychologie ist nicht Heilkunde
Vorgetragen 1988 - aber immer noch aktuell
Bereichs- oder Grundwissenschaft?
Wenn wir die Psychologie als eine Wissenschaft
verstehen und einordnen wollen, müssen wir uns die Frage stellen, auf welche
Weise das geschehen soll. Können wir von einer Psychologie ausgehen, über die sich reden lässt wie über eine eigene Einheit? Und welches Vorverständnis von Wissenschaft allgemein bringen wir schon mit in unsere Überlegungen ein? Was verstehen wir unter Wissenschaft allgemein? Auf die
letzte Frage möchte ich zuerst eingehen, die zweite beantwortet sich im
Laufe meines Vortrages von allein: Wir können in einer ersten groben Unterteilung erstmal von zwei Wissenschaftsarten
sprechen. Die eine bezieht sich auf einen besonderen, irgendwie inventarisierbaren
Phänomenbereich und kann so als Bereichswissenschaft verstanden werden [z.B. die Geographie mit ihren Flüssen und Bergen, um es salopp zu sagen]. Die
andere stellt durch eine eigene, grundlegende Perspektive auf die Welt, ihre
Phänomene und Methoden selbst erst her und kann deshalb als
eine "perspektivische", "methodenbildende" oder kurz gesagt, als eine "Grundwissenschaft"
verstanden werden.
Die leidliche Absicherung im Formalen!
In der Wissenschaft ist das Vorurteil
verbreitet, dass es eine allgemeingültige Beweismethode gibt, die einen
methodisch festen Rahmen und Halt gibt, der für alle Wissenschaften
gleichermaßen existentiell und nützlich ist. Demnach handelt es sich in
einer wissenschaftlichen Untersuchung etwas überspitzt gesagt, vor allen Dingen
darum, einen einwandfreien Beweisgang nach dem Muster einer logischen und
widerspruchsfreien Schlussmethode aufzubauen (Vorbild: Formale Logik). Von einer
solchen Auffassung her, erscheint das genaue Hinsehen, Beschreiben und kontext-heranziehende Einschätzen der Zusammenhänge, dann doch eher als eine
Sache von geringerer Bedeutung. Wenn das Augenmerk so sehr auf das
einwandfreie Schließen und das Verfertigen von logisch einwandfreien Aussagen
gerichtet ist, dann steht wahrscheinlich ein Sinn dahinter: Möglicherweise
soll es dem Forschenden das Gefühl der Sicherheit geben: Schließlich
braucht er dann seine Beobachtungen und Arbeitsschritte nur noch in Sätze zu
fassen, die formallogisch richtig sind und am Ende korrekt auseinander
hervorgehen. Etwas salopp formuliert könnte man sagen: Er muss dann seine
Beobachtungen (und Sätze) nur noch in Formen übersetzen, die auch ohne Inhalt
richtig sind. Und spätestens hier, melden sich bei dem psychologisch
interessiert Mitdenkenden doch Bedenken an.
Kompensation eines fehlenden Regulativs
Bezieht man dieses Verständnis von
Wissenschaft auf die Erforschung der seelischen Zusammenhänge, wird schnell
klar, dass die Komplexität der bildhaften Zusammenhänge nicht zusammenpasst mit dem Versprechen einer Sicherheit durch ein formallogisches Schließen. Ein geheimes Wissen um die
Komplexität der Verhältnisse und ein gleichzeitiges Festhalten an der vermeintlichen Macht des logischen Schließens laufen in der Wissenschaft von heute nebeneinander her: Das
Ergebnis ist ein Wissenschaftsbetrieb
der mit extrem hohen Aufwand arbeitet. Das ungelöste Problem dieser Verbindung wird durch umfangreiche quantitative Erhebungen gleichsam zu kompensieren gesucht: Der Halt und die innere
Sicherheit einer Methode im Ganzen lassen sich nicht durch die Logik eines
formal korrekten Schließens herstellen. Halt
und Sicherheit müssen sich aus Anderem entwickeln. Sie gehen aus der
Stimmigkeit hervor, die sich zwischen den Methoden der Forschung und den
Methoden der Sachen erst ergeben (Aufwände kompensatorischer Art erkennen wir
an der inflationären Entwicklung evaluierender Verfahren).
Die so beschriebene Form von Wissenschaft
ist trotz des enormen Aufwandes aber auch recht erfolgreich und expandiert. Dabei denke ich an eine große Zahl von Neugründungen in der
Wissenschaft (Politologie, Informatik, Soziologie, Sozialwissenschaft). Es sind in der letzten Zeit so viele neue Wissenschaften
entstanden, dass es nahe liegt zu fragen, ob diese sich nicht im Schwerpunkt als Anwendungsgebiete einer einzigen Wissenschaft verstehen, einer Wissenschaft, die in einem operationalisierenden, formal-logisch korrekten Beschreiben und Schlüsse-ziehen besteht. Im
Zuge dieser Entwicklung ist u.a. auch die „wissenschaftliche“ oder sagen
wir besser die „akademische Psychologie“ entstanden.
Bildperspektivische Psychologie und Methode
Die Psychologie, über die ich hier jetzt
reden möchte, ist im Gegensatz zur akademischen Psychologie allerdings von
einer anderen Natur. Sie geht auf eine andere Auffassung von Wissenschaft
zurück und beschreibt einen anderen Typus von Wissenschaft. Es handelt sich dabei
um ein Verständnis oder um ein Bild von Wissenschaft, wie es in den Schriften von
Friedrich Nietzsche entwickelt wurde. Die Wirklichkeit wird hier als
perspektivisch organisiert gedacht, oder wie wir auch sagen können: als
bildperspektivisch. Aus ihr folgt, dass es nicht eine Beweismethode für alles zugleich gibt. Nicht nur die Ergebnisse, sondern auch
die ihr hilfreichen Beweismethoden müssen an der Sache selbst entwickelt werden.
Das gilt auch für das ganze Konzept, was uns sagt, nach welchen Regeln in der
jeweiligen Wissenschaft eine hinreichende Erklärung bzw. eine angemessene
Ableitung hergestellt und überprüft werden kann.
Durch den Vergleich der beiden Arten von
Wissenschaftlichkeit wird sichtbar, dass Wissenschaft auch immer
weltanschauliche Züge hat. Nietzsches Idee von der perspektivischen Natur der
Wirklichkeit kann erschrecken: Es gibt hier keine hinter allen Dingen stehende
letzte Ordnung. Wissenschaft arbeitet hier nicht an der einen Ordnung für
alles, nicht an einer Hierarchie von Ordnungen, Wertigkeiten, Wahrheiten usw.
Hierarchie kommt ursprünglich aus dem Altgriechischen und spricht mit den beiden Elementen hieros (heilig) und arche (Herrschaft) von einer heiligen Herrschaft, also von einer wahren und letzten Ordnung. Wir besitzen aber grundsätzlich keine Ordnung, die uns jenseits des jeweils entwickelten Systems Halt und Rechtfertigung geben könnte. Vielleicht ist
das auch der Grund, warum in der Öffentlichkeit von dieser
Wissenschaftsauffassung so selten gesprochen wird. Ich muss zugeben, dass das
mir jetzt auch ein bisschen Angst gemacht hat, das hier so laut und deutlich zu
sagen, dass es mir um eine Wissenschaft geht, die sich nicht auf eine tendenziell
feststehende und zumindest in der Tendenz klar vorgegebene Ordnung glaubt
berufen zu können, sondern um eine Wissenschaft, die sich ihre Methoden und
Maßtstäbe erst im Umgang mit der jeweiligen Sache selbst entwickeln muss und zwar
so wie sie es angesichts bestimmter, von ihr selbst getroffener Setzungen am
Ende braucht, und nicht wie es ihr aufgrund von irgendwelchen scheinbar
objektiven, Kriterien vorgegeben ist.
Psychoanalyse als Protagonistin des Neuen
Es war jetzt die Psychoanalyse, die sich
getraute, eine solche Wissenschaftsauffassung in die Tat umzusetzen. Mit ihr
entstand eine völlig andere Psychologie, die Tiefenpsychologie, wie wir heute
sagen. Was war geschehen? Freud hatte im Umgang mit leidenden Menschen eine
andere Natur der Wirklichkeit entdeckt. Er nannte das, was er entdeckt hatte
die Logik des Unbewussten. Er war auf Gesetze gestoßen, die der Logik (der
formalen Logik natürlich) widersprachen, mit denen man aber, wenn man etwas
davon verstanden hatte, dann auch „rechnen“ konnte. Die besondere Beobachtung
der Überdeterminiertheit von Zusammenhängen und die überall anzutreffende
Ambivalenz seelischer Zusammenhänge, hätten unter dem Regiment einer formalen Logik keine rechte Anerkennung
finden können. Freud hat, der neu entdeckten Sache folgend, eigene
Ableitungsprinzipien entwickelt, auch eine eigene Auffassung darüber, was unter
ausreichenden Erklärungen, eigenen Schlussmethoden, und angemessenen Kontrollen zu verstehen ist.
Man darf nicht vergessen, dass die Gründung
einer psychoanalytischen Schule notwendig und für die weitere Entwicklung der
Psychologie sinnvoll war - auch wenn
dies eine Trennung zwischen einer Forschung an den Universitäten und einer
Forschung an den sich neu gründenden Ausbildungsinstituten (Tiefenpsychologische
Psychotherapie) mit sich gebracht hatte. Diese Ausbildungsstätten und neuen
Forschungszentren waren für die Pflege und die Erhaltung der neuen Methoden notwendig,
die ja zunächst von der Wissenschaft der Universitäten abgelehnt wurden. Die
neuen Methoden konnten also hier ihre eigenen Normen entwickeln und
kultivieren, was in dem (ihnen gegenüber eher) "feindlichen" Klima der
Universitäten nicht möglich gewesen wäre.
Freuds Plädoyer für ein "Jenseits der Medizin" (und Heilkunde)
Freud schuf eine Protagonistin für eine
neue Wissenschaftsauffassung, und das war die Psychoanalyse oder Tiefenpsychologie.
Ich möchte an dieser Stelle ein Stückchen Freud zitieren. Freud hatte seinem
Freund Theodor Reik helfen wollen, als dieser in Schwierigkeiten wegen
Kurpfuscherei gebracht werden sollte, weil er kein Mediziner war, aber Analysen
durchführte. Bei der Gelegenheit hat Freud über die sogenannte Laienanalyse
geschrieben. Ich will ihnen hier die wichtigsten Bemerkungen vorlesen, die in einer
Diskussion zu diesem Aufsatz ein Jahr später, 1927, entstanden sind. Da sagt Freud:
„Es wird meinen Lesern nicht entgangen
sein, dass ich im Vorstehenden etwas wie selbstverständlich vorausgesetzt habe,
was in den Diskussionen noch heftig umstritten ist, nämlich, dass die
Psychoanalyse kein Spezialfach der Medizin ist. Ich sehe nicht, wie man sich
sträuben kann, das zu erkennen. Die Psychoanalyse ist ein Stück Psychologie,
auch nicht medizinische Psychologie im alten Sinne oder Psychologie der krankhaften Vorgänge,
sondern Psychologie schlechtweg, gewiss nicht das Ganze der Psychologie,
sondern ihr Unterbau. Vielleicht überhaupt ihr Fundament. Man lasse sich durch
die Möglichkeit ihrer Anwendung zu medizinischen Zwecken nicht irreführen, auch
die Elektrizität und die Röntgenstrahlen haben Verwendung in der Medizin
gefunden, aber die Wissenschaft von beiden ist doch die Physik.“ - Ich glaube, das ist deutlich!
Die exakte Wissenschaft als eine Falle (Fixierung)
Das Muster einer formal-logischen
Wissenschaftlichkeit ist die exakte, bzw. klassische Naturwissenschaft. In der
so genannten Philosophie der Logischen Analyse, von Bertram Russel, wird dieser
Anspruch bezogen auf die Mathematik im Bündnis mit der Physik erhoben. Die exakte
oder klassische Naturwissenschaft hat im Gegensatz zu der Psychologie, so wie
sie sich heute gibt, ein Gegenbild. Das Gegenbild ist das vermutende und deutende
Denken der "Philosophie". Die exakte Wissenschaft kann sich über dieses
Gegenbild abgrenzen und damit ihre eigene Sache klar und deutlich vertreten. Die klassische
Naturwissenschaft setzt das zwingende Schließen gegen die Methode des vermutenden Deutens und
Auslegens. Damit hat sie im Deuten der Psychologen Freudscher Prägung ein
klares Gegenbild gefunden.
Die Tiefenpsychologie hat die Klarheit des Eigenen noch nicht. Ihr fehlt eben das eigene Gegenbild, ein Bild, was sich zur deutlichen
Abhebung des Fremden vom Eigenen anbieten würde. Manche Psychologen neigen dazu, sich auf das ihnen eigentlich fremd bleiben müssende Bild, welches die "exakte Wissenschaft" sich als Gegenbild geschaffen hat, zu fixieren. Sie suchen dann zu beweisen, dass sie nichts Beliebiges tun und nicht etwa "deuten". Oder sie zwingen sich
wie zum Beweis in allerlei Zwanghaftes, also in die verschiedensten "Systeme" hinein.
Ein eigenes Gegenbild muss sein!
Die Heilkunde ist es, die sich für ein psychologisch-wissenschaftliches Denken als ein Gegenbild anbietet: Die Tiefenpsychologie, so wie ich sie verstehe, setzt dem Heilen - wie in einer Drehung um 180
Grad - das Entwickeln entgegen, Entwicklung mit ihrer umbruchshaften Natur. Das zur Abhebung geeignete Bild für eine wissenschaftliche Tiefenpsychologie ist also nicht die
Naturwissenschaft und auch nicht das mutmaßende Deuten einer sogenannten Geisteswissenschaft, welches ja das Gegenbild der sogenannten "exakten Wissenschaft" ist. Auch mit einer Gegenüberstellung von Geist und
Seele auf der einen und Materie auf der anderen Seite ist nichts zu gewinnen. Diese und
ähnliche Aufteilungen lenken nur ab von einer Selbstfindung als Wissenschaft
mit Namen Psychologie oder Tiefenpsychologie. Ihr Gegenbild ist vielmehr in der Haltung
und in dem Denken einer Heilkunde zu finden, kurz in einer heilkundlichen "Moral".
Die Abgrenzung von einer Heilkunde hebt das Eigene des Psychologischen ebenso
deutlich heraus, wie es das Bild des Herumdeutens für die exakte bzw. klassische
Naturwissenschaft tut. Ich möchte ihnen jetzt erzählen, zu welchen Klärungen
das führen kann. Ich kann das natürlich hier nur in groben Zügen tun und zwar am Beispiel der Begriffe Leiden und Behandlung.
Das Beispiel Leiden
Menschen, die in einen Zwang geraten sind, sitzen eigentlich dem heilkundlichen Begriff von Leiden auf, dem Leiden im Sinne eines Gebrechens nämlich. Leiden muss aber im psychologischen Sinne als etwas Doppeltes gedacht werden, nicht als ein krankhaftes Geschehen oder als ein Gebrechen, wie es in den Bergriffszusammensetzungen Nierenleiden, Herzleiden usw. gemeint ist, sondern als etwas, das Leiden und Leidenschaft zusammenbringt: Wir sagen ja auch: Das mag ich leiden oder ich mag es nicht leiden. Mit dem neurotischen Menschen meinen wir jemanden, der in einem Zwang gefangen ist und der gleichsam der heilkundlichen Bedeutung von Leiden (Leiden als Gebrechen) aufsitzt. Menschen, die wir Neurotiker nennen, wollen beweisen, dass Leidenschaft auch ohne Leid zu haben ist, und dass das Leid, also das Schmerzliche und Leidvolle prinzipiell zu beseitigen sind. Dazu bewertet der Neurotiker das normale Leid in bestimmter Weise um: Das zu einem Nervenkitzel oder zu einem "Sich-Sehnen" substantiell dazu gehörende Leid wird dann zu einem herausgerückten, störenden Leid umgebaut, zu einem Leiden, dass sich regelrecht verdinglicht und sich wie ein Gebrechen präsentiert. Der Leidende rechnet nun damit, dass die Welt ihm darin zustimmt, dass dieses Leid, was er uns ja so deutlich vor Augen führt, nicht wirklich nötig und darüber hinaus unzumutbar ist. Auf diese Zustimmung rechnet er und er bekommt sie auch in aller Regel von seiner Mitwelt. Leiden meint psychologisch aber Leid und Leidenschaft zugleich. Die Leidenschaft des Lebens existiert nur in einem Leiden zweiseitiger Ausrichtung: Einerseits mögen wir etwas besonders gut "leiden" und binden uns daran - andererseits kommen wir aber gerade dadurch erst in ein "Leiden" hinein, was zentral mit dieser Bindung zusammenhängt.Das Beispiel Diagnose-Behandlung
Auch der Begriff der Behandlung, den wir
von der Medizin her kennen, macht in der Abgrenzung zur Heilkunde etwas Eigenes
an der Psychologie deutlich. Wir müssen nämlich folgenden Unterschied
feststellen: Der Mediziner diagnostiziert und dann erst behandelt er. Der
Psychologe hingegen behandelt von Anfang an. Er behandelt also schon, indem er
ein erstes Bild bei der Erfassung der lebensgeschichtlichen Daten mit dem Befragten
herstellt und dies auf die eine oder andere Weise mit ihm teilt. Bilder sind eben
schon immer Veränderungen und das heißt, sie sind Behandlung von
Zusammenhängen. Die Psychologie hat also einen anderen Begriff von
Behandlung. Kurz: Auch das Bildermachen und Diagnostizieren ist ein Umgang mit
der Wirklichkeit, bei dem etwas in Bewegung gebracht wird. Man kann sogar
sagen, dass das Spezifikum der psychologischen Arbeit genau in dieser ihrer bildmethodischen
Natur liegt.
Sie sehen, wenn man sich das nicht alles
ausdrücklich klar macht, fehlt dem Psychologischen die eigene Entschiedenheit.
Psychologie wirkt durch ihre eigene Umwertung der Wirklichkeit. Wenn eine
psychologische Deutung "heilsam" ist, dann liegt es daran, dass
die Psychologie auf eine grundlegend andere Art auf die Wirklichkeit blickt und diese umerzählt und umbewertet. Die besondere, von der klassischen
Naturwissenschaft, und vor allem von der Heilkunde abweichende Haltung verursacht die heilsame Wirkung. Ihre Wirkung geht also nicht auf irgendeine besondere
Anwendung zurück, die es - wie ein Medikament etwa - zu "verabreichen" gelte.
Die Tragödie des erwünschten Ganz-Seins
Nun noch einmal zurück zu der allgemeinen
Idee des bildperspektivischen Denkens. Ganzheit und Heilsein, das geht nicht
zusammen: die Ganzheit ist entweder das Total, welches sich dann aber nicht
durch eine umfänglichere Ordnung gehalten wissen kann und in dieser Hinsicht
einen Mangel hat; oder Ganzheit meint etwas perspektivisch Ganzes. Das
perspektivisch Ganze hat diese haltende Ordnung in sich, aber es geht ihm andererseits
auch alles das ab, was sich nur über eine andere Perspektive haben oder leben
ließe. So oder so verstanden lässt uns der Traum vom Ganzen also unbefriedigt und
dementsprechend un-heil zurück: Das könnte man als die Tragödie unseres Hanges
zum Ganzen (oder Ganzsein) verstehen. Und weil es so wichtig ist, möchte ich es noch einmal sagen: Wenn wir das Ganze in einer perspektivischen Weise haben wollen, müssen wir auf die Vollständigkeit verzichten, die eben nur ein "Total" uns bieten kann, Erstreben wir dagegen das Ganze im Sinne eines Totals mit seiner Grenzenlosigkeit nach allen Richtungen, verzichten wir auf die haltgebende innere Ordnung im Ganzen, die wir eben nur in einem perspektivischen Ganzen finden können.
Zusammengefasst und perspektivisch
Die Idee der neuen Wissenschaftsauffassung
und die Verwirklichung dieser in der Tiefenpsychologie, verlangen nach einer Abgrenzung von einem heilkundlichen Denken.
Sie will uns ermutigen, die Psychologie nach Art einer Grundwissenschaft zu verstehen,
welche in der Lage ist, auch etwas für andere Ausrichtungen zu tun, ohne dabei zur bloßen Hilfswissenschaft zu werden. In unseren Weiterbildungen für den pädagogischen und den sozialen Beruf haben wir begonnen, diesen Gedanken umzusetzen: Für die Pädagogik und die
Sozialpädagogik/Sozialarbeit kann die Psychologie nach einem jeweils eigenen Gleichnis nützlich werden - perspektivisch ganzheitlich. Im Fall der Pädagogik gelingt ihr das über das Gleichnis der "Kultivierung" und im Falle der sozialen Berufe über das
Gleichnis einer "Strukturbildung im Tätigwerden". Die Ausbildung zum Psychosozialberater ist ein Projekt, mit dem wir vor zwei Jahren begonnen haben und was sich zu unserer Freude sehr gut entwickelt. An solchen und ähnlichen Fragen, Zielsetzungen
und Realisierungen arbeiten wir in unserem Forum. Heute feiern wir hier unser
erstes öffentliches Auftreten. Wir würden Sie gerne dafür gewinnen, an der
Verwirklichung unserer Ziele, in der einen oder anderen Weise teilzunehmen.
Ich danke Ihnen für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit.
Vortragender: Werner Mikus
P.S.
Der Titel des Vortrags im Original: "Psychologie als Grundwissenschaft".
Er wurde 1988 in Köln von Werner Mikus auf der Veranstaltung des Psychosozialen Forums "Psychologie ist nicht Heilkunde" gehalten. Hierbei gab es einen Mitschnitt und eine Verschriftlichung desselben, die wir Anja Opelt verdanken. Aus dieser "Abschrift" konnten wir den Vortrag - zu dem wir ansonsten nur die Stichwortzettel des Redners hatten - im Genaueren rekonstruieren. Darüber hinaus haben wir versucht, mit Zwischenüberschriften und kleineren stilistischen Korrekturen, diesen ersten, wichtigen Vortrag in eine gut lesbare Form zu bringen. (die Redaktion).
Weitere Vorträge auf der Veranstaltung:
Wissenschaftliche Gesellschaft für Bildananlytische Psychotherapie und Beratung
(Karin Fischer, Erste Vorsitzende des Vereins)
- Die wachsende Bedeutung der analytischen Säuglingsbeobachtung
(W. Ernest Freud als Ehrengast)_____
20 Jahre später zum Thema Psychologie und Heilkunde:
Stuktur und Funktionieren von Psychotherapie
Eine psychologische Analyse
Werner Mikus (2008)
_____
25 Jahre später zum ziemlich gleichen Thema:
Zu den Dingen selbst - Wissenschaft von den erlebbaren Zusammenhängen
Werner Mikus (20013)
Bildquelle: Foto Werner Mikus, Museumsinsel Hombroich
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