Sprachbildliche und geschichtenhafte Welt - eine Wissenschaft im Werden
Das Sprachbildliche und die Psychoanalyse
Das Sprachbildliche hat im letzten Jahrhundert eine neue Bedeutung erhalten. Und diese geht nicht allein auf die Literatur zurück oder auf das zunehmende Geschichtenerzählen im neuen Medium des Films, es war vielmehr die Psychoanalyse die etwas Neues und Überraschendes an der Natur des Sprachbildlichen zutage gefördert hatte.Sie hatte sich nämlich eine bestimmte Eigenschaft derselben zunutze gemacht. Hierzu muss man folgendes wissen: Sprachliche Bilder können Prozesse und Entwicklungen organisieren (sie führen quasi Regie). Beispiel: Jemand ist das Aschenputtel in der Familie oder benimmt sich in seiner Welt wie Narzis aus den Ovidschen "Verwandlungen". Diese sprachlichen Bilder bestimmen darüber, in welchem Maß und auf welche Weise Widersprüchlichkeiten in einem Miteinander zugelassen werden oder eben nicht. Es gibt sprachbildliche Zusammenhänge, in denen vorhandene Widersprüche verleugnet werden, und solche in denen Widersprüchlichkeiten als unaufhebbar anerkannt und sinnstiftend zusammengebracht werden. Der zweite Typ gelebter Bildzusammenhänge war es, den sich die Psychiatrie in Wien, über den dort als Neurologe arbeitenden Sigmund Freud, zunutze machte. Dabei ging es zunächst um eine ganz bestimmte Sorte von Widerspruch, um Widersprüche, die aus einem Konflikt der Sexualität mit der Kultur hervorgegangen sind (Scham, Wünsche, Verbotenes). Es ging um eine Reihe von folgenschweren Bildprogrammen, die an das Sophokles'sche Ödipusdrama angelehnt waren und in denen die Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Größe aber auch die Rivalität und die Angst vor Verlust - thematisch eng mit der Sexualentwicklung verbunden - eine zentrale Rolle spielten. Leider verselbständigte sich das Interesse an den neu entdeckten Möglichkeiten des Sprachbildlichen schnell in Richtung bestimmter Inhalte des Sexuellen und des Emanzipatorischen. Die neu entdeckte Seite sprachbildlicher Wirklichkeit wurde nicht selten rein suggestiv und auf verschiedene Weise abkürzend genutzt.
Widersprüche nicht auflösen sondern in den Dienst stellen
Krankheiten und Zwänge lösen
sich auf, wenn Bildprogramme gefunden werden, welche die
vorher geleugneten Widersprüche eines Lebenszusammenhanges in ein
sinnvolles Miteinander umgestalten können. Die Menschen dieses Jahrhunderts - und
dazu gehöre ich zum guten Teil auch - wendeten sich vor allem der
entdeckten Bedeutung der Sexualität zu und ebenso der eigenen Person. Es war
ein Jahrhundert der exzessiven Selbsterfahrung und Psychologisierung. Das neue Interesse
hatte bald ein anwendungswissenschaftliches Zuhause gefunden, das sein Zentrum nicht
in den Instituten der Universitäten hatte, sondern in privaten
Lehrinstituten. Verwandte Therapierichtungen kamen auf und traten zur anstoßgebenden
Tiefenpsychologie hinzu (systemische oder Gestalttherapie, Gesprächstherapie,
kognitive Verhaltenstherapie z.B., später auch eine morphologische Intensivbehandlung, und eine bildanalytische Entwicklungstherapie). Von der
Gefahr einer Verselbständigung des Neuen sprach ich ja schon: Magische
Überbewertung ganz bestimmter Bildzusammenhänge und eine unbemerkte Überschätzung suggestiver Wirkungen gegenüber einer strukturellen Behandlung von Zusammenhängen.
Ein relativistisches Denken führt weiter
Die Erforschung der
sprachbildlichen Welt mit ihren noch unbekannten Möglichkeiten ging erst dann weiter, als man in der Wissenschaft den Mut fasste, auch übergreifende
Prozesse ernstzunehmen und zwar auf gleicher Ebene wie die Prozesse, die
allgemein für die ursprünglich Seelischen gehalten wurden. Die
operationalisierende Wissenschaft konnte das nicht leisten, weil sie ja alles von
Anfang an herunterbrach auf Einfaches, Kleines, Abzählbares. Deshalb war hier
die Wirkungseinheiten-Psychologie von Wilhelm Salber (Morphologie) Durchbruch
in ein Neuland. Das Wirkungseinheiten-Konzept nahm jetzt neben dem aktuellen Wahrnehmen, "Denken, Fühlen und Wollen" auch solche Zusammenhänge als seelische Zusammenhänge, die bisher wie eine kulturelle oder sonstwie vorgegebene Rahmung behandelt wurden. Die scheinbar von Außen auf das Seelische wirkende Realität verwandelte sich in der Morphologie Wilhelm Salbers selbst in etwas Seelisches, das aktiv und auf gleicher Ebene wie das aktuelle Seelische wirkte. Wie in der Physik, wo der Rahmen (also: Raum
und Zeit) nach Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie plötzlich aktiv
mitzuspielen begann und sich als Krümmung (räumlich) oder als Dehnung (zeitlich) auf die bewegte Masse reagierend bemerkbar machte, wurden im Seelischen nun die
Prozesse einer scheinbar nur rahmenden Realität zu einem aktiven Mitspieler in
einem seelischen Gesamtprozess. Wilhelm Salber bot ein Konzept, was die gleiche
qualitative Veränderungswirkung auf die Psychologie von damals hatte, wie die
Relativitätstheorie auf die Newtonsche Physik.
Übergreifende Prozesse
Die Beschreibung des Seelischen musste von
jetzt an die Bedingung erfüllen, personübergreifend zu sein und auch
die so genannten nichtseelischen Dinge in ihr Organisationsprinzip mit einzubeziehen. Die sprachlichen Bilder - und das zeigte sich jetzt - haben die
Fähigkeit, subjekt-unabhängige Prozesse herauszuheben! Das war eine neue Position
in der Erkenntnis über die sprachbildliche Wirklichkeit. Im Kölner
Institut wurden über mehr als 30 Jahre hinweg Studenten darin trainiert, auf diese Weise beschreiben zu
können. Ich selber war in diesem Prozess als Ausbilder mit eingespannt, sowie als Redakteur der Zeitschrift "Zwischenschritte".
Hier gab es ebenfalls die Gefahr der Verselbständigung des Neuen:
Diese Gefahr bestand in einem allzu formalisierenden Umgang mit polaren Verhältnissen, welche durch ein Spielen mit Worten und oft mit großzügigem Bezug auf die darstellende Kunst "beschmückt" wurden. Diese Art Verselbständigung hat möglicherweise mit dazu beigetragen, dass sich die Morphologie trotz ihres revolutionären Ansatzes bisher nicht nachhaltig durchsetzen konnte. Es liegt demnach nicht nur an dem kräftigen Bruch, den die Morphologie mit der operationalisierenden und auf den Besitz eines methodischen Generalschlüssels pochenden "akademisch-experimentellen" Wissenschaft vollzogen hat.Eine nicht-deterministische Idee tritt hinzu
Je weniger man nun zentralistisch von einer Quelle der Seele aus
dachte, desto mehr verlegte sich der Ursprung des Seelischen von seinem
vermeintlich bekannten Ort aus (also vom Ort der Person) ins Ungewisse. Wo ist es eigentlich zu
Hause? konnte man sich fortwährend fragen. Und mit dieser Orts-Ungewissheit trat
zugleich die Frage auf: "Wie entsteht Seelisches überhaupt?", nachdem
man es aufgegeben hatte zu wissen, wo es entsteht: Es entsteht eben nicht
ausschließlich im Kleinkind und baut sich von da aus in eine erweiterte
Seelenwelt vor. Seelisches entsteht offenbar auch in anderen
Zusammenhängen. Und so bekommt die Frage nach dem Wie einen Sinn: Denn, wenn wir das wissen, können wir an vielen Orten Seelisches entstehen
lassen.
Seelisches ist eine sinn- und bedeutungsschaffende Realität
Seelisches ist immer erst einmal ohne (festen) Grund da - ganz so wie in der Quantenphysik, wo der Ort eines Elektrons im Überlagerungszustand nicht festgelegt ist. Seelisches erschafft sich seinen Grund immer erst in einem zweiten Schritt. Das ist die Analogie zur paradoxen Undeterminiertheit, die auch der Physik als Erkenntnis kurz nach dem Anerkennen der Relativitätstheorie beschert worden ist. Die Folgen für die weitergehende Erforschung der sprachbildlichen Wirklichkeit mit ihren noch unbekannten Möglichkeiten sind ebenfalls von großer Bedeutung: Die sprachlichen Bilder müssen eine hohe Bedeutungspotenz haben (Gleichnisse nach Art von Märchen, Mythen Literatur...). Wenn in dem Prinzip der NACHSCHAFFENDEN SINNBILDUNG das Entstehen von Seelischem begründet liegt, dann muss es immer bedeutungschwanger zugehen. Wenn etwas entsteht, ist es so wie in der Dekohärenz-Situation in der Physik: Ein Elektron hat die Qualität der Örtlichkeit gefunden und ist damit rein zufällig gerade hier oder da erschienen. So entstehen in Analogie zur Physik auch seelisch "singuläre Ereignisse". Die Entwicklung einer Sprache, welche diese hohe Bedeutungspotenz besitzt, muss auf breiter Front erst noch geleistet werden. Es sind z.B. großformatig übergreifende Bild-Zusammenhänge gefordert, wenn wir dem nachkommen wollen. Wie solch ein großformatig-übergreifender, sprachbildlicher Zusammenhang die verschiedensten Dinge zusammen- und in eine bewegliche Ordnung bringen kann, lässt sich am Beispiel des Märchens von "Einäuglein Zweiäuglein und Dreiäuglein" hier auf diesem Blog in einem Beitrag zum psychodoxen Denken nachlesen. Das Beispiel bringt die Entwicklung der Psychoanalyse mit einem perspektivischen Blick auf die besondere Bedeutung des Paradoxen ins Bild - und zwar bis in die aktuellen Entwicklungen einer, das Ganze weiterdenkenden Psychologie und Wissenschaft hinein.Auch hier besteht die Gefahr der Verselbständigung
Die Gefahr besteht in einer Überforderung, weil nunmehr keine Institution - weder im weiten noch im engen Sinne - existiert, die uns die Arbeit abnimmt, Verantwortung für eine Bedeutungszumessung immer wieder neu zu übernehmen. Der Soziologe Dirk Baecker, ein Schüler von Niklas Luhman, entwickelt in seiner Aufsatzsammlung "Studien zur nächsten Gesellschaft" erste Vorstellungen darüber, wie wir uns auf diese Probleme gesellschaftlich einstellen können.Die Perspektive der erlebbaren, sprachbildlichen Zusammenhänge
Die bis hierhin beschriebene Entwicklung legt mit seinem
letzten Akzent den Gedanken nahe, dass dieser Prozess auch einmal auf sich selbst zurückblicken möge. Und die dementsprechende Frage könnte lauten: Was ist der Gegenstand des psychologischen Denkens vom Ende her gesehen? Und die Antwort darauf: Es ist die Perspektive
der erlebbaren, sprachbildlichen Zusammenhänge. Die sprachbildlichen Zusammenhänge und ihre Geschichten beschreiben nicht nur die Wirklichkeit, sondern stellen selbst eine Wirklichkeit dar, eine Wirklichkeit, die wir leben und die uns lebt und weit über "uns" hinausgeht.
Autor: Werner Mikus
Ergänzende Lektüre:
Baecker, Dirk;
Studien zur nächsten Gesellschaft
surhrkamp taschenbuch - wissenschaft
(Dirk Baecker im Interview)
Mikus, Werner:
Zu den Dingen selbst (lesbar hier im Blog)
oder lesbar in KUNO
Kulturnotizen zu Kunst, Musik und Poesie
Edition Das Labor - Verlag der Artisten
Mikus, Werner;
Die Perspektive der Erfahrungszusammenhänge
Alfred North Whiteheads und eine neue Wissenschaft
Bildquelle: http://www.isgeschiedenis.nl/wp-content/uploads/2012/12/eenhoorn-470x310.jpg
Ergänzende Lektüre:
Baecker, Dirk;
Studien zur nächsten Gesellschaft
surhrkamp taschenbuch - wissenschaft
(Dirk Baecker im Interview)
Mikus, Werner:
Zu den Dingen selbst (lesbar hier im Blog)
oder lesbar in KUNO
Kulturnotizen zu Kunst, Musik und Poesie
Edition Das Labor - Verlag der Artisten
Mikus, Werner;
Die Perspektive der Erfahrungszusammenhänge
Alfred North Whiteheads und eine neue Wissenschaft
Bildquelle: http://www.isgeschiedenis.nl/wp-content/uploads/2012/12/eenhoorn-470x310.jpg
Kommentare
Kommentar veröffentlichen